Es war ein besinnlicher Start. Mit einer kleinen Ansprache und dem Lied «Stille Nacht» begann vor 100 Jahren die Geschichte des Radios in Deutschland. Am 22. Dezember 1920 hatten sich Postbeamte auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen südöstlich von Berlin zu einem Weihnachtskonzert versammelt – die Live-Übertragung ihrer Musik gilt als erste deutsche Rundfunksendung.
«Man kann es gar nicht so genau sagen, wie viele Menschen die Sendung damals gehört haben. Denn es gab noch keinen offiziellen Rundfunk in Deutschland, der wurde erst 1923 eingerichtet», sagt Florian Schütz. Er ist einer der beiden Kuratoren der Ausstellung «On Air. 100 Jahre Radio» im Museum für Kommunikation Berlin. Die Schau ist wegen Corona geschlossen, aber über das Internet gut zugänglich. «Das Hören dieses ausgestrahlten Programms war auf deutschem Gebiet ‚Schwarzhören‘.» Niemand habe also 1920 Interesse gehabt, sich als Zuhörer zu outen.
Schon wenige Jahre später ist das Radio auf dem Weg zum Massenmedium. Anfang 1924 sind 1580 Rundfunkteilnehmer angemeldet, am Jahresende fast 550.000, ein Jahr später ist die Millionengrenze überschritten. «Radio ist in erster Linie einfach mal ein Unterhaltungsmedium», sagte Hans-Ulrich Wagner, Leiter des Instituts für Mediengeschichte am Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg, kürzlich im Deutschlandfunk über die Anfänge bilanzierend.
«Natürlich beginnen sofort Überlegungen: Was kann das auch noch sein?», so Wagner. Der wichtige Radiopionier Hans Bredow (1879-1959), dem auch die Erfindung des Wortes «Rundfunk» zugeschrieben wird, habe zum Beispiel «in den 20er Jahren die Vorstellung von einer Art Volkshochschule» im Sinn gehabt – der Rundfunk als Instrument, um jedem Kultur und demokratische Ideen nahezubringen.
Die Nazis haben andere Vorstellungen und rücken ab 1933 die taktische Bedeutung wieder in den Vordergrund, die schon einmal eine wichtige Rolle bei der Entstehung hatte. Denn wie andere Erfindungen – etwa Armbanduhr oder Reißverschluss – hatte die Radiotechnik erst mit dem Ersten Weltkrieg einen riesigen Sprung nach vorne gemacht.
Das drahtlose Funken sei schon bei den Soldaten des deutschen Kaisers eine eigene wichtige Waffengattung gewesen. Experte Schütz: «Aus dem Ersten Weltkrieg als großer Beschleuniger von technischer Innovation ging letztlich auch das Radio oder der Rundfunk in seiner Form hervor. Das ist natürlich auch schon einmal ein Zeichen dafür, dass Radio politisch ist und politisch aufgeladen war und es immer irgendwie blieb.»
Nichts verdeutlicht das wohl mit solcher Brutalität wie die Urteile des Nazi-Regimes gegen Menschen, die ausländische Sender gehört hatten statt NS-Propaganda. Schütz: «Das Hören sogenannter Feindsender stand von Beginn an unter Strafe. Wenn man sich einen Volksempfänger kaufte, war auch ein entsprechender Warnhinweis dabei. Ab 1939 kam auch die Todesstrafe in Frage. Es gab sogar Jugendliche, die mit 18 oder 19 Jahren hingerichtet wurden, weil sie die BBC gehört hatten.»
Mit der Einrichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ziehen nach 1945 die Gesetzgeber die Konsequenzen aus der dunklen NS-Zeit. Seit den 1980er Jahren kommen Privatradios dazu. Alles in allem schalten heute mehr als 53 Millionen Menschen ab 14 Jahren werktags die rund 70 öffentlich-rechtlichen Wellen und rund 280 Privaten ein.
Auch die Technikgeschichte des Radios im Nachkriegsdeutschland bleibt eng mit der großen Politik verknüpft. Zum Beispiel bei der Frage, warum die Ultrakurzwelle so zügig Mittel- und Langwelle weitgehend verdrängt hat. Schütz berichtet: «Deutschland war Kriegsverlierer und wurde bei der Beratung und der Vergabe von Mittel- und Langwellen außen vorgelassen. Dann hat man sich in Deutschland überlegt: Wir müssen einen technologischen Workaround finden, damit wir weiterhin über ausreichend Frequenzen verfügen. Und da hat man dann auf die Ultrakurzwelle zurückgegriffen, die es in technischen Versuchen schon gab, man aber noch nicht für öffentlichen Rundfunk eingesetzt hatte.»
70 Jahre später steht das Medium wieder vor einem technischen Wandel. DAB+ und Internetradio gewinnen an Bedeutung. Bisher habe das Radio aber jede Neuerung gut überstanden, auch der Konkurrent Fernsehen habe ihm nicht geschadet, so Schütz. «Es gibt Algorithmen, es gibt die Digitalisierung, es gibt Audio on demand und all diese Dinge, die auch wiederum als Bedrohung für das Radio wahrgenommen werden. Aber eigentlich ist es nur Definitionssache, was Radio dann irgendwann sein wird. Der Konsum von Audio als Medium wird bleiben.»
Allein 2020 wurden laut Branchenverband gfu 3,6 Millionen Empfänger verkauft. In 94 Prozent aller Haushalte steht mindestens ein Radio, bereits 24 Prozent der Haushalte besitzen ein digitales DAB+-Radio, und 14 Prozent verfügen über eine Empfangsmöglichkeit für Webradio.
«Das Radio ist höchst lebendig», sagt Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue zum Jubiläum. «Als geliebtes Radioprogramm oder auch als neues digitales Audioangebot. Sein zähes und höchst erfolgreiches Leben verdankt das Radio seiner Wandlungsfähigkeit, seiner Nahbarkeit und persönlichen Ansprache und seiner Vielfalt. Das Radio ist auf ‚Ohrenhöhe‘ mit den Menschen, das macht es unverändert beliebt.»