Ein Haus aus gerollten Stoffbändern und Knoten: Die Installation «La cabane» (übersetzt: Die Hütte) stammt von Pascal Tassini. Der Belgier kreiert seit mehr als zwanzig Jahren textile Skulpturen und verpackt Alltagsobjekte.
Die farbenprächtige Arbeit hat raumfüllend und prominent ihren Platz in dem neuen Museum Trinkhall in Lüttich gefunden – zusammen mit Werken der in London lebenden Künstlerin Mawuena Kattah und des 2019 gestorbenen Porträtmalers Pierre De Peet.
Mit der Trinkhall besitzt die belgische Stadt Lüttich seit wenigen Monaten ein neues, in seiner Art einzigartiges Museum. Denn es beherbergt Werke geistig behinderter Künstler, die der Direktor der neuen Einrichtung, Carl Havelange, als «art situé» bezeichnet, situierte Kunst. Mit dem Konzept soll die Sammlung von den Begriffen «Outsider Art», Außenseiterkunst, und «Art Brut» (übersetzt etwa: rohe Kunst) abgegrenzt werden. Unter «Outsider Art» und «Art Brut» versteht man ursprüngliche und autodidaktische Kunst von Menschen, die nicht in den Kunstbetrieb eingebunden sind, darunter geistig Behinderte und psychisch Erkrankte.
Für Havelange liegt der wesentliche Unterschied zur «art situé» nicht nur in dem Begriff, der weniger stigmatisierend ist. «Die «art situé» wird mit Blick auf ihre Umwelt betrachtet – sowohl was ihre Entstehung als auch ihre Rezeption betrifft», wie er erklärte. So werden die Arbeiten von geistig behinderten Künstlern in Ateliers geschaffen und nicht im Rahmen von Psycho- oder Beschäftigungstherapien. Havelange sieht in ihnen die künstlerische Ausdruckskraft fragiler Welten, die in Lüttich ihren Platz in einem ihnen gewidmeten Museum finden.
Der Weg dorthin sei lang gewesen, sagte der Wissenschaftler. Die Sammlung wurde vor vierzig Jahren angelegt. Den Grundstein legte der Künstler Luc Boulangé 1979 mit der Gründung der Vereinigung «Créahm». Ihr Ziel: Kunstformen von Menschen mit geistiger Behinderung in Workshops zu fördern, die von bildenden und darstellenden Künstlern geleitet werden.
Darin liegt für Havelange die Originalität der Vereinigung, die mittlerweile auch in Frankreich, der Schweiz, Amerika und Asien Nachahmer gefunden hat. Denn die Ateliers finden vor einem künstlerischen Rahmen statt und sind nicht therapeutisch oder beschäftigungstechnisch ausgerichtet.
Das Trinkhall-Museum liegt im zentral gelegenen Lütticher Parc d’Avroy. Mit seiner runden Opalfassade glitzert und glänzt es von weitem. Der Name des Museums, das im Juni 2020 eröffnet wurde, geht auf die Trinkhall aus dem Jahr 1880 zurück, ein Café im maurischen Stil mit Tanzsaal und Billard. Das Wort leitet sich von der deutschen Trinkhalle ab, ursprünglich ein Verkaufsstand für Wasser und nichtalkoholische Getränke.
Der Krieg von 1914 bis 1918, die Winterfluten von 1925 bis 1926 und der fortschreitende Verfall des Gebäudes im Laufe der Zeit führten zum Abriss. Im Jahr 1963 wurde dort wieder ein Café und Restaurant errichtet, das die Stadt, Besitzer des Ortes, Jahre später wegen Renovierungsbedürftigkeit schloss. In das verlassene und heruntergekommene Haus zog dann Boulangé mit seiner Vereinigung ein – trotz der Androhung der Räumung.
Ein Machtkampf begann, den Boulangé mit Hilfe der Bürger gewann: Aus dem Sitz und dem gleichzeitigen Ausstellungsraum der Créahm (Creativité et handicap mental; dt. Kreativität und geistige Behinderung) wurde 2003 das MADmusée, das Museum für differenzierte Kunst und schließlich die Trinkhall für «art situé».