Musiker, Koch, Thomas-Mann-Kenner und obendrein im Herzen immer noch ein Teenager – der Dirigent Sir Simon Rattle ist so vielfältig wie sympathisch.
«Wie viele Musiker bin ich eben ein ewiger Kindskopf», bekannte er mal in einem Interview. Nun führt den Briten sein Weg nach München. Nach Stationen bei Toporchestern wie den Berliner Philharmonikern wird er Chefdirigent des Symphonieorchesters und des Chores des Bayerischen Rundfunks (BRSO). Momentan ist der 65-jährige Wahlberliner noch Musikdirektor des London Symphony Orchestra. Seine Amtszeit in München startet er deshalb erst im Herbst 2023, für vorerst fünf Jahre.
Für den 65-Jährigen ist der Posten eine besondere Freude, tritt er doch die Nachfolge des 2019 verstorbenen Maestros Mariss Jansons an, für den er große Bewunderung hegt. «Was Mariss hinterlässt, ist sein unglaubliches Gefühl für Veredelung und die unbedingte Konzentration auf die Schönheit eines runden Klangs. Das spürt man in jedem Moment, was sehr bewegend ist», sagte er dem Bayerischen Rundfunk (BR) nach dem Tod des Musikers. «Wenn ich dann das Orchester dirigiere, kann ich spüren, wie mein Freund unter uns ist.»
Die Entscheidung für Rattle kommt nicht ganz überraschend. Schon bald nach dem Tod von Jansons am 1. Dezember 2019 kam der Name des Briten ins Spiel. Nahrung bekamen diese Spekulationen auch, weil Rattle öfter in München weilte, um das Orchester zu dirigieren. Debütiert hatte er dort 2010 mit Robert Schumanns «Das Paradies und die Peri».
Die Musiker schätzen seitdem die Arbeit mit dem 65-Jährigen. «Selten gibt es zwischen Dirigent und Orchester von Anfang an so ein tiefes gegenseitiges, musikalisches Verständnis», erklärte am Montag der Orchestervorstand. Der Chor sprach von einem Glücksfall. Die langjährige Zusammenarbeit mit ihm zeichne sich «durch höchste musikalische Wärme» und Hingabe an alle Musikstile und Epochen aus.
So wie dem BRSO sind auch Rattle Projekte für Kinder und Jugendliche ein Anliegen. Davon zeugt der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm «Rhythm Is It!» über ein Projekt, in dem 250 Kinder und Jugendliche verschiedener Herkunft eine Choreographie zu Igor Strawinskys «Le Sacre du Printemps» tanzen. Auch vor Filmmusik scheute der experimentierfreudige Musiker nicht zurück. So spielte er mit den Berliner Philharmonikern den Soundtrack für Tom Tykwers Literaturverfilmung «Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders» ein. Das Werk nach dem Roman von Patrick Süskind kam 2006 ins Kino.
Ein ambitionierter Musiker mit vielfältigen Interessen und Talenten. «Ich glaube, ich habe fast alles von Thomas Mann gelesen», sagte er mal der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Er hat fünf Kinder, ist Fan des Fußballvereins FC Liverpool und steht auch gerne am Herd. Sein Spezialrezept: «Lamm, acht Stunden im Ofen gekocht», wie er mal dem «Hamburger Abendblatt» verriet. «Das habe ich für Angela Merkel und ihren Mann gekocht, als sie bei uns zum Essen waren.»
Musikalisch reicht seine Bandbreite von Barock bis zur zeitgenössischen Musik. In München trifft er nun auf ein renommiertes und spielfreudiges Ensemble. Eugen Jochum hatte das Orchester 1949 gegründet, das sich mit vielen Reisen nach Asien, Amerika und ins europäische Ausland auch international einen hervorragenden Ruf erspielte und viele Aufnahmen veröffentlichte. Besonders verpflichtet fühlt sich das BRSO der Neuen Musik, wovon auch die Verbindung zur Konzertreihe musica viva für zeitgenössische Musik zeugt.
Als möglicher Nachfolger war auch der Kanadier Yannick Nézet-Séguin gehandelt worden, mit 45 rund 20 Jahre jünger als Rattle. Allerdings: Der energiegeladene Musikchef der New Yorker Metropolitan Opera ist viel beschäftigt, unter anderem mit Chefposten in Philadelphia und Montreal.
In München setzt man nun stattdessen auf die Erfahrung Rattles, der unter anderem von 2002 bis 2018 Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker war und mehrere Jahre Chef der Salzburger Osterfestspiele. Beim BR-Symphonieorchester reiht er sich in eine Reihe namhafter Musiker ein, die das Ensemble in der mehr als 70-jährigen Geschichte leiteten, wie Rafael Kubelík, Sir Colin Davis oder Lorin Maazel. Und zuletzt Jansons – von 2003 bis zu seinem Tod. Seine Zeit sei «ein äußerst glücklicher Abschnitt» gewesen, schreibt das Orchester in einer Hommage an den Verstorbenen. «Innerhalb kürzester Zeit gelang es ihm, eine Atmosphäre höchsten künstlerischen Anspruchs und enger emotionaler Verbundenheit zu schaffen.»
Diesen Spagat wird auch Rattle versuchen müssen zu meistern. Eine Herausforderung, die den 65-Jährigen jedoch kaum abschrecken dürfte, auch wenn er sich offenbar immer wieder selbst infrage stellt. «Ich denke, Selbstzweifel sind ein wesentlicher Teil des Selbstverständnisses jedes Künstlers. Ohne sie kann keiner wachsen, ohne sie trocknet man aus», sagte er einmal in einem Interview mit dem Magazin «Brigitte Woman». «Wer sich einrichtet in dem, was er erreicht hat, kann einpacken und nach Hause gehen.»