Seine Sehkraft hatte stark nachgelassen, er trug ein Hörgerät, doch auch mit 100 Jahren war der Beatnik-Dichter
Lawrence Ferlinghetti unverblümt und scharfsinnig.
In seinem Gedicht «Trump’s Trojan Horse» (dt.: Trumps Trojanisches Pferd) beschrieb er ein Weißes Haus, aus dem Männer des damaligen US-Präsidenten Donald Trump rausplatzen, um die Demokratie zu zerstören.
Nun ist der Pazifist, Denker und gefeierte Dichter, der in den 1950er Jahren mit seinen Beatnik-Kollegen Jack Kerouac und Allen Ginsberg die literarische rebellische Bewegung in der Westküstenmetropole San Francisco anführte, im Alter von 101 Jahren gestorben.
Zu seinem 100. Geburtstag 2019 war auch in Deutschland sein Buch «Little Boy» erschienen, Erinnerungen an sein Leben und Reflexionen über die Gesellschaft, die er im Beat-Stil als Gedankenfetzen zu Papier brachte. Es seien keine Memoiren, betont Ferlinghetti damals im Gespräch mit dpa. Mit diesem Wort verbinde er eine «liebenswürdige» Schreibform.
Ferlinghetti hatte ein bewegtes Leben: Kindheit bei einer Tante in Frankreich, als Soldat im Zweiten Weltkrieg im Pazifik und beim D-Day in der Normandie, Studium an der Sorbonne in Paris, dann nach San Francisco, wo er zu einer der zentralen Figuren der Beat-Bewegung wird.
Er gründet den legendären Buchladen und Verlag City Lights, einen Treffpunkt für Intellektuelle und Poeten. Die Fassade des Buchladens, mitten im Italienerviertel North Beach, dient als Reklamewand für Protest-Worte – riesige Banner mit der Aufschrift «Andersdenken ist nicht un-amerikanisch», «Stoppt Kriege und Kriegstreiber», oder «Stoppt Abschiebungen». Dort trägt Allen Ginsberg 1955 sein berühmtes Gedicht «Howl» («Das Geheul») über Sex, Rausch und ein neues Lebensgefühl vor.
Der Text löst einen Skandal aus, die Staatsanwaltschaft befindet
das Gedicht als obszön. Als Verleger wird Ferlinghetti verklagt,
doch er gewinnt den Prozess, der die Beatniks ins Rampenlicht rückt.
«Ein mutiger Mensch und ein mutiger Poet», sagte der Sänger Bob Dylan
einmal über Ferlinghetti. Doch der wehrt ab. «Für uns war es einfach
Dichtkunst, die veröffentlicht werden musste», sagte er der dpa telefonisch zu seinem 100. Geburtstag.
«Wir haben einen großartigen Dichter und Visionär verloren», sagte die Miteigentümerin und pensionierte Geschäftsführerin des Buchladens und Verlags, Nancy Peters, der Zeitung «San Francisco Chronicle». Sie würdigte Ferlinghetti, mit dem sie mehr als 50 Jahre lang eng zusammenarbeitete, als «Legende seiner Zeit».
Der am 24. März 1919 in der Stadt Yonkers im US-Bundesstaat New York geborene Autor brachte im Laufe seines Lebens Dutzende Werke heraus. «Seine Arbeit hat ihm einen Platz im amerikanischen Kanon eingebracht», schrieb City Lights in einem Nachruf. Zu Ferlinghettis bekanntesten Werken zählt der Gedichtband «A Coney Island of the Mind» («Ein Coney Island des Bewusstseins») aus dem Jahr 1958, der in etliche Sprachen übersetzt wurde und City Lights zufolge einer der am besten verkauften Lyrikbände aller Zeiten ist.
Eine Gedenkveranstaltung zum Tod Ferlinghettis ist aufgrund der Corona-Pandemie zunächst nicht geplant. City Lights erinnerte an die Feiern zum 100. Geburtstag des Dichters vor knapp zwei Jahren. Die große Beachtung seines Schaffens hatte Ferlinghetti damals selbst nicht erwartet. «Ich war nur ein Hund, der aufmerksam durch die Straßen lief und alles um sich herum wahrnahm», sagte er.