Haareschneiden und Rasieren verboten, heißt es nächste Woche in Oberammergau. Gerade einmal zwei Wochen, bevor die Friseure endlich wieder öffnen, müssen dort die Haare wachsen – der Tradition zuliebe.
Ein Jahr und drei Monate vor der geplanten Premiere der Passionsspiele in dem oberbayerischen Ort will der Spielleiter Christian Stückl mit Bürgermeister Andreas Rödl (CSU) den «Haar- und Barterlass» verkünden. Es ist schon der zweite Anlauf: Wegen der Corona-Krise hatte Stückl die Passion am 19. März 2019 um zwei Jahre verschoben.
Ebenfalls wegen der Corona-Krise gibt es nun beim Brauchtum Kulanz: Damit die FFP2-Masken auch bei den Oberammergauer Herren richtig sitzen, ist das Rasierverbot gelockert.
Wallende Bärte und schulterlanges Haar prägen alle zehn Jahre zur Passion das Bild in dem Ort der Herrgottsschnitzer. Vor einem Jahr war es schon soweit: Oberammergau stand zwei Monate vor der Passion, als die Pandemie an Fahrt aufnahm. Stückl sagte schweren Herzens die Premiere ab. Mit der Verschiebung auf 2022 hob er auch den Haar- und Barterlass auf. Mütter, Väter, Geschwister und Partner griffen zur Schere. Denn auch damals waren die Friseure geschlossen.
Vom 14. Mai bis 2. Oktober 2022 soll das Laienspiel vom Leben, Sterben und der Auferstehung Jesu nun auf die Bühne kommen. Waren beim ersten Anlauf die meisten glattrasiert und frisch geschoren in die Zeit des Haarschneide-Verbots gestartet, so tragen viele Oberammergauer pandemiebedingt jetzt schon Mähne.
Am Mittwoch (17. Februar) will Stückl mit Rödl offiziell das Plakat mit dem Aufruf vor dem Passionstheater anschlagen: «Alle Mitwirkenden und alle Kinder, die an den Passionsspielen 2022 teilnehmen, werden hiermit vom Spielleiter und der Gemeinde Oberammergau aufgefordert, sich ab Aschermittwoch, den 17. Februar 2021, die Haare, die Männer auch die Bärte, wachsen zu lassen.»
Der Erlass betrifft fast die Hälfte aller Einwohner. Rund 2500 Oberammergauer wirken an der Passion mit. Der Ort bringt das Laienspiel seit fast 400 Jahren gemäß einem Pestgelübde auf die Bühne. 1633 versprachen die Oberammergauer, alle zehn Jahre die Passion aufzuführen, wenn niemand mehr stürbe – was der Legende nach so geschah.
Historisch ist nicht gesichert, wie Christus aussah und ob er langes Haar und Bart trug. «In den Evangelien wird über das Aussehen von Jesus gar nichts gesagt. Das war auch nicht das Wichtige», sagt die für die Passion vom Erzbistum München und Freising nach Oberammergau entsandte Seelsorgerin Angelika Winterer. Schließlich sei es um die Botschaft gegangen. Auf einigen frühen Darstellungen, etwa in der Stadt Dura-Europos im heutigen Syrien und in den Katakomben von Rom, werde Jesus mit kurzen Haaren und ohne Bart gezeigt. «Unsere Vorstellung heute ist aber sehr stark geprägt von der byzantinischen Kunst, die Jesus mit langen Haaren und Bart zeigt.»
«Historiker sagen, man weiß eigentlich gar nicht, wie die Mode damals war», sagt auch Frederik Mayet, der 2022 zum zweiten Mal den Jesus darstellen wird. Von römischen Soldaten gebe es aber Zeichnungen und Münzprägungen, die diese glattrasiert mit kurzen Haaren zeigten.
In Oberammergau standen Jesus und seine Jünger womöglich nicht immer mit Mähne auf der Bühne. Der Ursprung des Haar- und Barterlasses ist nicht bekannt. «Wann die Tradition wirklich begründet worden ist, weiß kein Mensch», sagte Stückl vor zwei Jahren.
Bis 1720 gab es pro Passionsjahr nur zwei Aufführungen. Es gilt als zweifelhaft, ob es sich dafür lohnte, die Haare wachsen zu lassen. Aus dem Jahr 1820 ist dann allerdings überliefert, dass über die Gemeinde acht Perücken angeschafft wurden. Der Schneidermeister Schauer, so vermerkt die Chronik, erhielt demnach für das Anpassen des Haarwerks sieben Gulden. Erste Fotos der Passion von 1850 und dem langbehaarten damaligen Jesusdarsteller Tobias Flunger belegen dann laut Mayet eindeutig: «Da hat man sich die Bärte wachsen lassen.»
Der üppige Haarwuchs bei Männern kollidierte schon damals mit mancherlei Vorgaben. 1870 wurde der damalige Christus-Darsteller Josef Mayr zum Militär eingezogen, aber auf Befehl König Ludwigs II. vom Kriegsdienst befreit, wie in dem Fachbuch «Die ewige Passion – Phänomen Oberammergau» zu lesen ist. Mayr durfte demnach nur in der Münchner Garnison eingesetzt werden und dort als Kanonier langhaarig Dienst tun. «Bei Inspektionen durch den Korps-Kommandanten mußte der zweckentfremdete Christus aber in der Besenkammer versteckt werden, damit der General nicht in Rage geriet», schreiben die Autoren.
Bis heute passen Passion und Barras nicht gut zusammen. Mayet, der 2000 den Wehrdienst leisten musste, bekam eine Ausnahmeerlaubnis. «Die Oberammergauer durften ihren Dienst an der Waffe mit langen Haaren und Bart tun.» Wer fest bei der Bundeswehr ist, bewirbt sich meist als römischer Soldat. Die Römer sind wie die Orchestermusiker und die Helfer hinter der Bühne vom Haarschneideverbot befreit. Eine regelrechte Rasierpflicht wiederum gilt für den Engel, verkörpert im Wechsel von zwei jungen Männern. Denn einerseits sind Engel in Bayern traditionell männlich – aber Bärte tragen sie nicht.