Den Blick aus Kai Diekmanns Villa auf Usedom kennen viele von den Fotos, die der ehemalige «Bild»-Chefredakteur regelmäßig im Internet teilt: Baumwipfel, dahinter der Strand und die Ostsee, die in weiter Ferne den Himmel trifft.
Dieser Ausblick war vor über hundert Jahren auch Engelbert Humperdinck (1854-1921) aufgefallen, dem Komponisten der Oper «Hänsel und Gretel». «Wohnung gefunden […] Aussicht aufs Meer», notierte er 1906 in sein Tagebuch. Jetzt kehrt seine Musik zurück auf die Insel – auch dank Diekmann. Eine kleine Sensation gab es bereits im Vorfeld, wie er der Deutschen Presse-Agentur und der «Welt am Sonntag» berichtet hat.
Die Villa «Meeresstern» liegt auf einer Anhöhe oberhalb der Strandpromenade von Heringsdorf. 2015 kauften Diekmann und seine Frau das rund 170 Jahre alte Haus. Sie hätten sich «in die Insel auf Anhieb verliebt», erinnert sich Diekmann, der zwischen seinem Hauptwohnsitz in Potsdam und dem Nebenwohnsitz an der Ostsee pendelt.
In seiner Beschäftigung mit der Villa stieß er auf den Aufenthalt Humperdincks in dem Haus im Herbst 1906. Diekmann fand heraus: Als Humperdinck für rund eine Woche hier einzog, arbeitete er gerade an Musik zum Shakespeare-Drama «Der Sturm». Offenbar wollte er sich von der Kulisse inspirieren lassen. Erst zum Jahreswechsel 1904/1905 hatte eine Sturmflut Teile der Insel verwüstet.
«Das fand ich total interessant. Ich hab mich auch total in die Musik des «Sturms» verliebt», schwärmt Diekmann. Kein Wunder, denn Humperdinck war – wie Diekmann – Fan des Komponisten Richard Wagner, hat mit ihm zusammengearbeitet und von ihm gelernt. Das hört man auch dem «Sturm» an. Bei dem Stück handelt es sich laut Christian Ubber um die umfangreichste und am größten besetzte Schauspielmusik von Humperdinck. Ubber leitet die Musikwerkstatt Engelbert Humperdinck in dessen Geburtsstadt, dem nordrhein-westfälischen Siegburg. Im Gegensatz zu heute sei es damals üblich gewesen, Theaterstücke mit großem Orchester zu begleiten.
Der Präsident der Deutschen Grammophon, Clemens Trautmann, sagt: «Dieser Einfluss von Wagner ist natürlich auch in Humperdincks Musik zu spüren – dieses Spätromantisch-Schwelgerische, auch diese Thematik der Märchen und Mythen.» Viele dürften nicht wissen, dass «Hänsel und Gretel» eine Oper aus Humperdincks Feder ist. Dabei ist es eine der meistgespielten Opern der Welt. Humperdincks übrige Werke sind weniger populär.
2021 jährt sich der Todestag des Komponisten zum hundertsten Mal. Für Diekmann der Anlass, um zusammen mit dem Pianisten Hinrich Alpers und dem ehemaligen Geschäftsführer und Programmdirektor von Klassik Radio, Henry C. Brinker, ein Festival auf Usedom zu organisieren. Im kommenden September soll «Der Sturm» wieder dort live gespielt werden, wo er teilweise geschrieben wurde.
Während der Eröffnung der Bayreuther Festspiele 2019 fassten Trautmann und Diekmann zudem den Entschluss, Humperdinck-Musik neu aufzulegen. Laut Trautmann insofern passend, da Humperdinck selbst als Assistent von Wagner in Bayreuth gearbeitet und dort die Uraufführung des «Parsifal» mitvorbereitet hatte.
Und noch etwas passte laut Diekmann: «Der nächste Zufall war, dass es eine einzige existierende Aufnahme vom «Sturm» gibt. Und wer hat die Rechte? Die Deutsche Grammophon.» Im April erscheint nun ein Humperdinck-Best-of, mit den Aufnahmen des «Sturms», «Hänsel und Gretel», aber auch neu eingespielten Liedern und Kammermusik.
Mitten in die Vorbereitungen der Veröffentlichung platzte 2020 schließlich eine Überraschung, die mit Humperdincks Schwester Ernestine zusammenhängt. «Nach allem, was ich weiß und was biografisch gesichert ist, war es ein sehr enges und herzliches Verhältnis zwischen Engelbert und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Ernestine», sagt der Humperdinck-Spezialist Ubber. Ernestine starb mit 17 an Tuberkulose. «Ich weiß, dass dieser Tod ihn sehr, sehr beschäftigt hat.»
Auf einer Auktion hat Diekmann das Poesiealbum von Ernestine erworben. Neben Einträgen von Mitschülerinnen, Tanten und Cousinen, findet sich in dem Album auch ein Eintrag ihres Bruders, den er etwa zwei Jahre vor ihrem Tod geschrieben hatte. «Allerdings hat er ihr keinen Text hinterlassen, sondern er hat ihr ein Stück komponiert – «Erinnerung»», erklärt Diekmann. Da Humperdincks Frühwerk bei einem Dachstuhlbrand zerstört wurde, handelt es sich bei dem neu aufgetauchten Klavierstück um die zweitälteste authentische erhaltene Komposition Humperdincks. «Insofern ist das also schon eine werkhistorisch und biografisch sehr bedeutende Entdeckung», ordnet Ubber ein.
«Das war eine E-Mail mit sehr vielen Ausrufezeichen, die da ankam», erinnert sich Trautmann. Er selbst als ausgebildeter Klarinettist und Pianist Alpers hätten schon anhand des Notenbildes erkannt, «ja, das ist ein spannendes Stück». Alpers habe das Stück gespielt und ein Handy-Video davon herumgeschickt. Diekmann erinnert sich: «Das, muss ich sagen, das war wirklich ein ganz besonderer Moment.» Eine «kleine Sensation». Am Freitag ist das kleine romantische Stück als Auskopplung veröffentlicht worden und hat somit Weltpremiere gefeiert. Im Herbst soll es dann auf Usedom zum ersten Mal vor Publikum gespielt werden.
«Das gibt natürlich einem Jubiläumsprojekt die besondere Note, wenn man wirklich auch ganz, ganz neue wiederentdeckte Musik zum ersten Mal zu Gehör bringen kann», sagt Trautmann. «Es ist schon eine Verkettung von wirklichen tollen Umständen und Zufallsfunden.»