Sich nach Nähe sehnen, aber auch Abstand respektieren: Selten zuvor ist so viel über beides gesprochen worden wie im vergangenen Jahr.
Für die Schauspielerin Natalia Wörner und den Designer Guido Maria Kretschmer ist das aktuell auch aus anderen Gründen ein Thema: Sie engagieren sich für ein Trainingsprogramm gegen Belästigung in der Öffentlichkeit. Beide kennen Grenzüberschreitungen aus eigener Erfahrung und haben mit der Deutschen Presse-Agentur darüber gesprochen. Und beide sehen es als Chance, dass sich die Menschen in der Pandemie so intensiv mit Abstand und Nähe beschäftigt haben.
«Nicht zuletzt durch Corona wird das, was wir am meisten vermissen, nämlich physische Nähe, neu definiert», sagt Wörner. Sie selbst kenne keine Frau, die Grenzüberschreitungen verbaler, körperlicher, emotionaler Art nicht schon erlebt habe. «Und sich streckenweise in dem Moment selbst nicht adäquat verhalten konnte.» Mit dem Programm «Stand Up» sollen Frauen und Mädchen gestärkt werden, sie sollen lernen, in Situationen der Belästigung zu handeln und diese zu entschärfen. «Auch ich kenne das aus eigener Erfahrung, dass man Situationen erlebt und sich in dem Moment nicht adäquat verhalten kann», erzählt Wörner. «Dass einem in dem Moment, quasi wie zeitversetzt, die Situation wegrutscht.»
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur zum Internationalen Frauentag am 8. März sagen 42 Prozent der befragten Frauen, dass sie schon einmal verbale Belästigung erlebt haben. Also etwa Sprüche oder vermeintliche Komplimente mit sexuellem Hintergrund. 41 Prozent der Frauen geben an, schon unerwünscht angefasst worden zu sein. 11 Prozent haben demnach Stalking-Erfahrung gemacht.
Auch für Guido Maria Kretschmer ist die Corona-Zeit ein guter Moment, um zu überlegen: «Vielleicht könnte man das gleich abschaffen – sich daran gewöhnen, dass sich das Grenzen Überschreiten und andere Antatschen einfach nicht gehört. Das ist eigentlich eine Vorstufe von Gewalt.» Bei der Initiative «Stand Up», die von der Organisation Hollaback! und L’Oreal Paris ins Leben gerufen wurde, geht es vor allem darum, anderen in solchen Situationen zu helfen, Courage zu zeigen. Kern sind die fünf Ds, die mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen trainiert werden: Direct – Ansprechen, Distract – Ablenken, Delegate – Andere hinzuziehen, Document – Aufnehmen und Delay – Aufschieben.
Dass es nicht immer einfach ist, in solchen Momenten selbst richtig zu reagieren, hat auch Natalia Wörner erlebt. Ende der 1980er Jahre lebte sie in Paris und arbeitete als Model, da habe sie einige solcher Situationen erlebt. Rückblickend habe sie sich da nicht immer klar geäußert. «Und genau das muss man lernen: Sich eine eigene innere Lizenz zu geben, sich klar zu äußern. Dazu kann man sich selbst ermutigen – aber auch alle Frauen um sich herum. Das ist Gemeinschaft.»
Auch Kretschmer hat als junger schwuler Mann Grenzüberschreitungen erfahren. «Ich habe es aber auch in der Modebranche erlebt, beim Shooting, bei Fotografen und Models, wo ich dachte: Was glauben die, was man mit Models machen kann, nur weil man sie gebucht hat?» Tatsächlich gaben 38 Prozent der Frauen, die schon einmal Belästigung erlebt haben, in der Umfrage an, dies sei im Job passiert. 56 Prozent machten demnach solche Erfahrungen auf der Straße und 35 Prozent auf einer Feier.
Anderen helfen zu können, Mut zur Courage, das will das Trainingsprogramm «Stand Up» vermitteln. Die Schulungen sollen etwa auf Festivals, in Schulen oder im Internet angeboten werden. «Frauen zur Seite zu stehen, die überfordert sind in einem Moment, ist ja, wenn man es sich einmal zu Herzen kommen lässt, auch ein Wunsch nach dem Hand-in-Hand-Gehen», sagt Wörner. «Ich glaube, mehr Zivilcourage steht uns allen in jeglicher Form.» In den vergangenen Jahren habe sich in der Gesellschaft schon viel getan. Was früher noch als Kavaliersdelikt durchgegangen sei, gelte inzwischen oft als inakzeptabel. «Ich kenne übrigens auch viele Männer, die sich einbringen an Stellen, an denen sie früher die Klappe gehalten hätten oder betroffen zur Seite geschaut hätten.»