In seinem Bestseller beschreibt Sylvain Tesson sein erstes Aufeinandertreffen mit dem Schneeleoparden in der stillen Bergwelt Tibets in großen Worten. Die lang erwartete Begegnung fand auf über 4500 Metern statt.
«Er trug das Wappen der tibetischen Landschaft. Sein Fell, Intarsien aus Gold und Bronze, gehörte dem Tag, der Nacht, dem Himmel und der Erde». Und: «Ich glaubte ihn in der Landschaft getarnt, doch es war die Landschaft, die bei seinem Erscheinen erlosch.»
In Frankreich war das Buch die große Literatur-Überraschung 2019, nun ist es auf Deutsch erschienen. Wider Erwarten wurde der bekannte französische Reiseschriftsteller für das Werk nicht nur mit dem renommierten Literaturpreis Renaudot ausgezeichnet, sondern auch zum meist gelesenen frankophonen Autor.
Frankreichs Presse sprach von einem literarischen Phänomen, denn das Buch hat den Renaudot-Preis gewonnen, obwohl es nicht auf der Liste der Finalisten stand. Der große Publikumserfolg hatte die Juroren in letzter Sekunde anders entscheiden lassen. Rund 500 000 Exemplare seien laut der jährlichen Hitliste der Wochenzeitung «L’Express» und des Radiosenders «RTL» von «La Panthère des neiges» verkauft worden, wie das Werk im Original heißt.
Gründe für die Begeisterung gibt es viele. Eine atemberaubende, oft poetische Prosa, eine schöne, reiche, erfrischende Sprache: «Aus diesem Stein geboren, war er selbst zum Berg geworden, er drang aus ihm hervor. Er war da und die Welt erlosch.» Und: «Die Landschaft war ein Fächer. Crèmefarbene Hänge schoben sich zwischen vom Schnee knittrige Hinterwelten. Der Schnee bestäubte die Faltungen, die Götter hüllten sich ein.»
Das Buch ist dank des Tierfotografen Vincent Munier entstanden. Der mehrfach preisgekrönte Naturfotograf fragte Tesson, ob er nicht mit ihm nach Tibet reisen wolle, weil dort der Schneeleopard lebe. Den Dialog gibt Tesson in dem Werk wieder: «Ich dachte, der sei ausgestorben», so der Schriftsteller. Muniers lakonische Antwort: «Er tut nur so.»
Sein Buch ist auch die Geschichte einer metaphysischen Suche. Die Begegnung sei für den Autor eine Begegnung mit sich selbst gewesen. Die Schönheit, Eleganz und Erhabenheit habe ihm alle seine Schwächen gezeigt, sagte Tesson in einem Interview mit dem Radiosender «France Inter». In seinem Buch schreibt er: «Es war der schönste Tag meines Lebens, seit ich tot war.» Was er damit meint, entschlüsselt sich auf den knapp 200 Seiten.
Durch die Reise habe er gelernt zu sehen, erzählte er in dem Interview weiter. Er habe 25 Jahre lang die Welt durchquert, ohne wirklich etwas zu sehen. Tesson bereiste Island und Russland, reiste von Bhutan nach Tadschikistan, hielt in Tibet an, entdeckte Kasachstan und Usbekistan, Pakistan und Afghanistan und Indien. Der Abenteurer war auch ein begeisterter Kletterer. Er bestieg die Pariser Notre-Dame, den Eiffelturm und andere Denkmäler, bevor er im Sommer 2014 beim Erklimmen einer Hauswand in Chamonix, in den französischen Alpen, stürzte. Er erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Knochenbrüche. Heute ist er einseitig taub und sein Gesicht halbseitig gelähmt.
Laut Weltnaturschutzunion IUCN gehört der Schneeleopard zu den bedrohtesten Großkatzen der Welt. Heute streifen schätzungsweise nur noch 4000 bis 6600 Tiere durch die Wildnis. Wegen seines rauchgrauen Fells ist er zwischen den Felsen der Bergwelt Zentralasiens kaum zu erkennen. Weil er unsichtbar und lautlos ist, nennen ihn die Himalayabewohner auch «Phantom der Berge».
Während Tesson seine Begegnung in eine literarische und meditative Reise verwandelt hat, ist aus den herrlichen Aufnahmen von Munier der Bildband «Zwischen Fels und Eis: Auf den Spuren der letzten Schneeleoparden in Tibet» entstanden, der in Deutschland im Oktober 2019 erschienen ist.
– Sylvain Tesson: Der Schneeleopard, Aus dem Französischen von Nicola Denis, 192 Seiten, Rowohlt, Hamburg, 192 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-498-00216-9.