Schamanische Gesänge, das Knistern von Feuer, langgezogenes Kreischen von Vögeln und dazwischen Synthesizer-Musik: Für sein neues Album «Amazônia» hat sich Jean-Michel Jarre von Bildern des Starfotografen Sebastião Salgado (77) aus dem brasilianischen Regenwald inspirieren lassen.
Er habe sich dem Amazonas respektvoll, poetisch und impressionistisch angenähert, erklärte der Pionier der elektronischen Musik im Vorfeld.
Den «Amazônia»-Soundtrack hat der französische Musiker und Komponist (72) für die gleichnamige Salgado-Ausstellung geschaffen. Die rund 200 Fotografien sollen erstmals in der Pariser Philharmonie zu sehen sein, voraussichtlich ab 20. Mai. Danach soll das multisensorische Ereignis auf internationale Tournee gehen – über Rio de Janeiro und São Paulo bis nach London und Rom.
Jarre ist mit musikalischen Mitteln in die Tiefe des Regenwaldes geradezu eingetaucht, dafür elektronische und orchestrale Instrumente mit authentischen Urwald-Klängen verbunden. In das für Jarre typische Zusammenspiel vieler Synthesizer mischen sich Elemente eines ganzen Lebensraums: Feuer, Wasser und Wind, Tiergeräusche, spirituelle Gesänge und Musik ethnischer Gruppen.
Jarre hat mit seiner Musik die Klangwelt eines Ökosystems eingefangen, ohne in die Kategorie der Ethnomusik zu rutschen. Dabei habe er eine musikalische Toolbox geschaffen, um das Timbre realistischer Naturgeräusche zu reproduzieren, sagte er über seine Arbeit. Bei den Stimmen, Liedern und Instrumenten griff er auf das Tonarchiv des Ethnografischen Museums in Genf zurück.
Sein knapp 60-minütiger Soundtrack schafft eine dichte Atmosphäre, die den Amazonas nicht nur musikalisch wahrnehmbar macht. Seine Sounds erzeugt im Kopf mannigfaltige Bilder einer Region, die als Juwel der Weltnatur gilt. Er habe den Wald als fantastische Vorstellung erschaffen, erklärte der französische Musik-Weltstar.
So kann man den Amazonas hören und sehen – auch wenn man die einzigartige Ausstellung von Salgado nicht besuchen kann. Sechs Jahre lang hat der Fotograf und Umweltaktivist den Amazonas durchstreift und den Wald, die Flüsse, die Berge und die dort lebenden Menschen fotografiert. Aufnahmen, von denen viele erstmals der Öffentlichkeit gezeigt werden, mit denen der vielfach preisgekrönte Fotokünstler zum Nachdenken über die Zukunft der Artenvielfalt und den Platz des Menschen in der Welt anregen will.
Mit «Amazônia» setzt der Musiker Jarre seine Experimente fort. Er sei zu den Grundprinzipien natürlicher Klangkompositionen zurückgekehrt, um eine Geräuschkulisse zu kreieren, deren Elemente scheinbar willkürlich ineinander fließen und trotzdem Harmonien und Dissonanzen erzeugen, beschrieb er seinen Schaffensprozess.
Erst vor wenigen Monaten hatte der Soundmagier mit Live-Reality-Konzerten überrascht. Dabei trat er als Avatar in einer virtuellen Umwelt auf – zuerst am 21. Juni zum Fest der Musik, das wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde, dann am 31. Dezember in der 3D-Rekonstruktion der Pariser Kirche Notre-Dame, die bei einem Großbrand im April 2019 schwer verwüstet worden war. Das 45-minütige Silvester-Event hat laut Angaben der deutschen Plattenfirma Sony Music weltweit 75 Millionen Zuschauer angezogen.
Jarre hatte mit seinen Kompositionen für Synthesizer erstmals in den 70er Jahren Neuland betreten und die Musikwelt revolutioniert. Mit «Oxygène» schaffte er 1976 den internationalen Durchbruch. Das Instrumental-Album, das er in seinem improvisierten Homestudio aufgenommen hatte, verkaufte sich weltweit millionenfach. Das sei aufregend und spannend gewesen, wie er vor seinem Live-Reality-Konzert in Notre-Dame sagte.
Auf «Oxygène» folgten «Equinoxe» und «Magnetic Fields», ebenfalls Millionen-Seller. Mit «Zoolook», seinem achten Album, experimentierte Jarre 1984 erstmals verstärkt mit Sprachfetzen, die er verfremdete und zu Klangkollagen verarbeitete.