Dass er 26 Jahre, sechs Monate und nicht wenigstens noch einen Tag länger gelebt hat, ist vermutlich die tragischste Begebenheit im nicht einfachen Leben von Wolfgang Borchert.
Sein viel zu früher Tod 1947 trennte ihn nur wenige Stunden von dem wichtigsten Ereignis seiner literarischen Laufbahn: der Uraufführung seines Theaterstücks «Draußen vor der Tür» am Tag darauf. Hamburgs großer Schriftsteller, der vielleicht wichtigste Augenzeuge der Stunde Null, wäre an diesem Donnerstag (20. Mai) 100 Jahre alt geworden.
Es ist der beste Zeitpunkt, ein sehr abwechslungsreiches Gesamtwerk wiederzuentdecken. Hamburg feiert mit vielen Online-Veranstaltungen. «Schaut man sich die Auflagenzahlen der Werke Borcherts an und die künstlerische Verarbeitung seiner Texte in Musik, Literatur und Kunst, gibt es kaum vergleichbare Autorinnen und Autoren», sagt der Literaturwissenschaftler und Borchert-Kenner Konstantin Ulmer über Borcherts Platz im Literaturkanon. Immer neue Schülergenerationen lesen im Deutschunterricht das Stück vom Kriegsheimkehrer Beckmann.
Es ist eine düstere Geschichte. Der Held kehrt mit einem zerlumpten Wehrmachtsmantel und einer Gasmaskenbrille am Gummiband in das zerbombte Hamburg zurück und findet nicht mehr in das Leben zurück. Die Entfremdung gipfelt nach der Begegnung mit der Ehefrau in einem Satz, der so kalt und karg ist wie die zerstörte Stadt: ««Beckmann» sagte sie, wie man zu einem Tisch Tisch sagt.» Sogar Gott tritt auf, kann angesichts von so viel Tod aber nur weinen. Andere wollen nichts mehr hören und einen Schlussstrich ziehen. Das Ende bleibt offen. Der Text wird zunächst als Hörspiel inszeniert und erschüttert Millionen.
«Mir fällt kein zweites Stück ein, dass eine so breite Identifikation der Zeitgenossen erfahren hat», sagt Ulmer. «Wie sehr Borchert den Nerv der Zeit getroffen hat, lässt sich übrigens auch an der vehementen Ablehnung erfahren, die seinem Werk genauso zuteil wurde.»
Warum ist der Text noch heute so erfolgreich? «Einige von Borcherts Schlüsselthemen sind von bedrückender Aktualität. «Draußen vor der Tür» lässt sich als Stück über Posttraumatische Belastungsstörungen lesen, Krieg, Heimkehr, Heimatlosigkeit, aber auch Lebens- und Liebeshunger sind Themen von universeller Bedeutung», sagt Ulmer. Borcherts Leben und Werk seien auch eine Mahnung, was passiere, wenn Faschisten, Rassisten und Nationalisten die Macht überlasse werde.
Der Vorsitzende der Internationalen Wolfgang Borchert Gesellschaft, Prof. Hans-Gerd Winter, brachte das große Thema vor einigen Jahren zum 60. Todestag so auf den Nenner: «Wolfgang Borchert war der erste Schriftsteller der jungen Generation, die die Nazis nicht gewählt hatte, aber in den Krieg ziehen musste; er war der Erste, der darüber geredet hat.» Die klare Sprache und die schönen Bilder im Werk des jungen Hamburgers fesselten bis heute auch Jugendliche. «Wer weiß? Wenn er heute noch lebte (…), würde er vielleicht ganz anders schreiben», meinte Winter damals im dpa-Interview. Doch ähnlich wie zum Beispiel auch US-Schauspieler James Dean sei Borchert eben als gut aussehender junger Mann gestorben und in Erinnerung geblieben.
«Borcherts Texte werden bis heute vielgedruckt und vielgespielt, dabei auch aktualisiert», so Ulmer. Zu Lebzeiten sei die Begeisterung aber noch viel größer gewesen. Literarische Zeitgenossen zollten dem jungen Kollegen Respekt: «Selbst ein Großmeister der Kurzgeschichte wie Heinrich Böll, der ja auch einige Jahre älter war als Borchert, sah in seinen Texten idealtypische Beispiele für das Genre.»
1921 in bürgerliche Verhältnisse geboren (der Vater ist Lehrer, die Mutter erfolgreiche plattdeutsche Schriftstellerin), ist Borcherts wahre Leidenschaft ursprünglich das Theater gewesen. Nach nur zwei Monaten im Ensemble der Landesbühne Osthannover in Lüneburg – für ihn die glücklichsten seines Lebens – muss er schließlich in den Krieg.
Der Verdacht, dass er sich absichtlich einen Finger abgeschossen habe, bringt Borchert ins Gefängnis und an den Rand der Todesstrafe. Wiederholt landet er wegen kritischer Äußerungen in Haft, etwa wegen einer Goebbels-Parodie. Die Monate an der Front und in Zellen werden später tödliche Folgen haben. Ulmer: «Mangelernährung, Krankheiten, Erfrierungen, Verletzungen – es war ja nicht nur das Leberleiden mit den fast ununterbrochenen Fieberanfällen. Beim ersten Fronteinsatz hatte er den Mittelfinger der linken Hand verloren, vermutlich durch Selbstverstümmelung, beim zweiten hat er schwere Erfrierungen an den Füßen erlitten.» Fieberschübe begleiten 1947 Borcherts letzten Tage.
Was sollte man – außer seinem größten Erfolg – heute von ihm lesen? «In seinem Buchdebüt «Laterne, Nacht und Sterne» (1946) sind 14 ausgewählte Gedichte aus fünf Jahren Produktion versammelt, die er auch selbst als vorzeigbar empfand», sagt Ulmer. «Viel höher einzuschätzen ist meines Erachtens die Kurzprosa, Erzählungen wie «Die Hundeblume», «Die Küchenuhr», «Die dunklen drei Könige», «Nachts schlafen die Ratten doch», aber auch unbekanntere wie «Die lange lange Straße lang» oder «Tui Hoo». Oder die wunderbare Erzählung «Schischyphusch», die eine ganz andere Seite von Borchert zeigt: den humorvollen, lebenslustigen, menschenliebenden Autor.» Einen jungen Schriftsteller, der sich gern in ältere Frauen verliebte. An Borchert ist mehr wiederzuentdecken als sein Jahrhundertdrama über den Krieg.