Die Revolution steckt hinter einer Vase. Das Gefäß steht unscheinbar am Rand der «Marientod»-Darstellung, ein Flügel des berühmten Wurzacher Altars.
Eines der wichtigsten Zeugnisse deutscher Malerei des 15. Jahrhunderts aus der Werkstatt von Hans Multscher (um 1400-1467) birgt auch einen Hinweis auf die umfassenden Änderungen dieser Zeit: der Vase ist ein Schatten gemalt, eine bis dahin kaum zu findende Darstellung von Realität. Die Ausstellung «Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit» in der Gemäldegalerie der Berliner Staatlichen Museen widmet sich von Freitag an bis zum 5. September wichtigen Umbrüchen in der künstlerischen Darstellung.
Mit den nach coronabedingter Sperre wieder öffnenden Museen ermöglicht die hochkarätige Ausstellung Blicke auch auf solche kunsthistorischen Entwicklungen. Die Epoche mit ihren durchgreifenden Veränderungen wird verdeutlicht mit rund 130 Leihgaben und zentralen Werken aus Beständen der Staatlichen Museen. Derart umfassend ist der Blick auf die Kunst der Spätgotik aus Sicht des Museums ein Novum im deutschsprachigen Raum.
Die Epoche steht für tiefgreifende künstlerische Entwicklungen in der Übergangsphase zwischen Mittelalter und Neuzeit. «In dieser Zeit gab es im Grunde eine Medienrevolution vergleichbar der Einführung des Internets», erläuterte der Generaldirektor der Staatlichen Museen, Michael Eissenhauer, vor Eröffnung der Ausstellung. Eine Voraussetzung dafür war die Erfindung des Buchdrucks. Über das neue Medium können sich Motivgestaltung und künstlerische Ansätze im 15. Jahrhundert vergleichsweise rasend schnell verbreiten. Dafür hat die Ausstellung ein eindrucksvolles Beispiel: eine der auf Pergament gedruckten Gutenberg-Bibeln.
Gotik lässt häufig zunächst an Architektur denken: spitze Giebel, Kölner Dom. Die Spätgotik-Ausstellung streift diesen Bereich nur mit wenigen Darstellungen, etwa Schinkels riesenhaft-filigranem «Gotischer Dom am Wasser» (1813). Vieles wird gattungsübergreifend dargestellt, so wie auch die spätgotischen Werkstätten in mehreren Bereichen ihre Kunst umsetzten. Zur Ausstellung haben dafür mit Gemäldegalerie, Skulpturensammlung, Kupferstichkabinett, Kunstgewerbemuseum, Nationalgalerie und Staatsbibliothek sechs verschiedene staatliche Häuser ihre Depots geöffnet.
Die Wandlungen lassen sich mit den Werken nachvollziehen. In den Darstellungen sind zunehmend Licht und Schatten zu entdecken. Perspektiven machen sich breit, selbst profane Details sind zu finden. In der «Verkündung an Maria» von Konrad Witz sitzt die Gottesmutter in einer leeren Kammer auf simplem Holzboden, die Fluchten im Bild geraten noch etwas durcheinander, Lichtquellen mischen sich. Neben dem religiösen Motiv steckt der Hingucker in der Holztür hinter dem verkündenden Engel: ein banal ins Holz gehauener Türgriff aus Metall zieht dort die Aufmerksamkeit auf sich.
Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen verbinden die Üppigkeit von Gewändern mit zunehmend vielseitigen Körperstellungen – vor allem weg vom Starren. Körper und Räume bekommen zunehmend Wirklichkeitsnähe. Die berühmte «Karlsruher Passion», die vermutlich von Hans Hirtz stammt, gerät etwa in der «Gefangennahme Christi» zu einem Wimmelbild, in dem der Gottessohn fast untergeht. Religiöse Szenen sind immer häufiger in weltlichem Umfeld angesiedelt.
Dieser Weg zu alltäglicher wirkenden Realitäten ist auch an der Entwicklung der Porträtmalerei zu sehen, die den Porträtierten menschliche Züge und Eigenschaften hinzufügt. Ebenfalls neu ist die Entdeckung der Landschaft in realistischer Darstellung. «Die Drahtziehmühle» von Albrecht Dürer (1471-1528) ist dafür ein eindruckvolles Beispiel. Dürer hat vielleicht auch die größte Überraschung der Ausstellung parat: die Rückseite seines «Christus als Schmerzensmann» ziert eine abstrakte Farbkombination, die weit ins 20. Jahrhundert voraus zu weisen scheint.