Zuletzt überstand sie auch noch eine schwere Covid-19-Erkrankung. Es war äußerst knapp, wie ganz oft in ihrem bald 75-jährigen bewegten Leben.
Marianne Faithfull hat schon so viel Drama, Drogensucht, Chaos und Krankheit hinter sich – fast könnte man vergessen, dass sie von einem schönen Gesicht und einer hellen Stimme des «Swinging London» (mit dem Sixties-Hit «As Tears Go By») längst zu einer der größten Interpretinnen überhaupt geworden ist.
Auf ihrem neuen Album «She Walks In Beauty» lässt die englische Düsterpop-Diva nun – rund drei Jahre nach dem hochgelobten Spätwerk «Negative Capability» – selbst ihren immer brüchiger und kratziger gewordenen Gesang hinter sich. Zu sphärischen Arrangements aus Synthesizer, Klavier, Geige und Cello rezitiert Faithfull Gedichte britischer Romantik-Poeten des 19. Jahrhunderts: Lord Byron, John Keats, Percy Shelley, William Wordsworth.
Sie tut das mit einzigartig rauer, teilweise (womöglich coronabedingt) kurzatmiger Stimme, eindringlichem Ernst und angemessenem Pathos. Zur anspruchsvollen Dichtkunst hatte Faithfull schon immer eine enge Verbindung – nicht nur, weil sie von der Familie des österreichischen Schriftstellers Leopold Ritter von Sacher-Masoch (1836-1895) abstammt. Wie noch nie zuvor richtet sie sich nun direkt an belesene Hörer, die etwas Zeit und Konzentration mitbringen – denn «She Walks In Beauty» ist keine leichte Kost.
Wenn Faithfull die alten Texte über «The Bridge Of Sighs» (Thomas Hood) oder «The Lady Of Shalott» (Lord Tennyson) spricht, wenn sie Oden an den Herbst (nach Keats) oder den Mond (nach Shelley) richtet – dann ist das von Pop so weit entfernt wie Herzschmerz-Schlager von Beethovens 9. Sinfonie. Das Ergebnis: eine Platte, wie es sie selbst in dieser wechselhaften, von langen krisenbedingten Pausen geprägten Karriere noch nicht gegeben hat.
Und womöglich ihre letzte. «Vielleicht bin ich nie wieder in der Lage, zu singen», sagte Faithfull, die lange an einer Reduzierung auf die Liebesbeziehung zu Mick Jagger in den 60er Jahren litt, kürzlich dem britischen «Guardian». «Kann sein, dass das vorbei ist. Ich wäre unglaublich erschüttert, aber auf der anderen Seite: Ich bin 74.»
Und sie hoffe auf Wunder, seit ihr die Londoner Covid-Ärztin gesagt habe, dass sich ihre Lungen nie wieder erholen würden. «Wir müssen hoffnungsvoll sein, das ist wirklich wichtig. Und ich bin es, ja. Ich bin verdammt nochmal immer noch hier.»
Wie schon auf früheren Alben mit jüngeren Top-Musikern, etwa Beck, PJ Harvey, Damon Albarn, Jarvis Cocker oder Ed Harcourt, fand Marianne Faithfull auch für «She Walks In Beauty» illustre Mitstreiter. Der Australier Warren Ellis wird als rechte Hand der Aufnahmen sogar auf dem Plattencover erwähnt. Nick Cave, mit dem Ellis kürzlich das hochklassige Lockdown-Album «Carnage» vorgelegt hatte, steuerte Piano-Parts zu den Klangcollagen bei. Außerdem waren die Produzenten-Asse Brian Eno und Flood an dem Projekt beteiligt.
«Sie ist echt», sagt Ellis über die in Würde gealterte Sängerin und Gelegenheitsschauspielerin («Irina Palm»). «Sie ist absolut genial, und sie ist einmalig.» Faithfull sei immer relevant geblieben und «nicht zu einer Nostalgie-Figur verkommen», so der rauschebärtige Multiinstrumentalist der Cave-Band The Bad Seeds.
Ihr Poesie-Album kann zwar nun nicht als erster Versuch gelten, Dichtkunst und Musik zu verbinden – aber sicher als einer der gelungeneren. Nach Faithfulls Auseinandersetzung mit Kurt Weill und Bertolt Brecht auf dem Album «Seven Deadly Sins» (1998) und ihren live dargebotenen Shakespeare-Sonetten ist man davon aber nun wirklich nicht überrascht.