Der Bestseller «Pippi Langstrumpf» von Astrid Lindgren, alle Abenteuer in einem Band, erschienen im Oetinger Verlag, (Urheber/Quelle/Verbreiter: Georg Wendt/dpa)

Irgendein Buch des Hamburger Oetinger-Verlages hat mit großer Sicherheit beinahe jeder schon einmal in den Händen gehalten.

Ob Pippi Langstrumpf, das Sams, Alea Aquarius, Petterson und Findus, die Olchis, Geschichten vom Franz, die Tribute von Panem oder die Kinder vom Möwenweg – Literatur aus Hause Oetinger dürfte Millionen Mädchen, Jungen und Erwachsene in ihrer Kindheit begeistert und vielleicht sogar geprägt haben. Nun wird der drittgrößte deutsche Kinder- und Jugendbuchverlag 75 Jahre alt.

Führungswechsel, Umzug, Digitalisierung – in den vergangenen Jahrzehnten hat sich durchaus was verändert im Hause Oetinger. Eins jedoch blieb in dem familiengeführten Unternehmen immer gleich: Im Mittelpunkt der Literatur aus der Oetinger-Verlagsgruppe stehen starke und gut erzählte Geschichten, die selbstbewusst und mutig machen und die Fantasie der Leser anregen sollen. Darauf pochen die Verlegerinnen, das Mutter-Tochter-Duo Silke Weitendorf und Julia Bielenberg, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg mehrfach.

Die Autoren waren Freunde

Bielenbergs Großmutter hatte den Verlag zusammen mit ihrem Mann Friedrich Oetinger aufgebaut. Alle Kinder und Enkel sind quasi im Verlag aufgewachsen, der zugleich das Wohnhaus der Familie war. Und so kamen sowohl Weitendorf als auch Bielenberg schon als Kinder mit den Autoren und ihren Geschichten in Berührung. Nicht nur lesend. Mit vielen Autoren waren und sind die Verlagschefs befreundet. Astrid Lindgren beispielsweise war im Zuhause der Oetingers ein oft gesehener Gast. Weitendorf war das erste Kind, das die deutsche Fassung von «Pippi Langstrumpf» lesen durfte. «Aber sie war nicht mein Vorbild, sondern ich habe sie bewundert. Ich wäre lieber Annika gewesen», erinnert sich Weitendorf, die nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes 1996 viele Jahre lang die Geschicke des Verlages mitverantwortete.

Noch heute pflegt die Familie enge Verbindungen zu ihren Schriftstellern. «Wir verstehen uns als Autorenverlag, wir wollen junge Autoren, bei denen wir sehr hohes Potenzial sehen, langfristig aufbauen», sagt Bielenberg dazu. Etwa 25 Lektoren, die heutzutage Produktmanager heißen, arbeiten dafür im Verlag. Insgesamt besteht das Oetinger-Team aus rund 120 Leuten. Die Verlagsgruppe ist gemessen am Umsatz der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen zufolge nach Carlsen und Ravensburger der drittgrößte Kinder- und Jugendbuchverlag in Deutschland. Neben Julia Bielenberg führen seit 2018 Thilo Schmid und Christian Graef die Geschäfte.

Die Kinderbuch-Klassiker kommen zurück

Pippi Langstrumpf ist im Verlag überall präsent. Aufsteller, Bücherregale voll mit ihren Abenteuern, sogar am Revers von Weitendorf turnt die Piratentochter. Dem starken Mädchen hat der Verlag nicht nur seine Existenz, sondern auch sein Bestehen zu verdanken. «Wir profitieren von einem Stufen-Wachstum dank Pippi Langstrumpf», sagt Weitendorf dazu. Die Umsätze stiegen mit den ersten Filmen in den 1960er Jahren das erste Mal «exorbitant» an, das 50-jährige Jubiläum des Verlages 1996 sowie der 100. Geburtstag Lindgrens 2007 haben dank Pippi-Marketing ebenfalls die Umsätze nach oben getrieben.

Und selbst in der Corona-Zeit halfen die Geschichten um das extravagante Mädchen, das im vergangenen Jahr 75. Geburtstag feierte: «Die Leser haben sich – weil Empfehlungen aus der Buchhandlung fehlten – auf die Klassiker konzentriert. Und die haben wir. Nicht nur mit Pippi Langstrumpf», so Julia Bielenberg. Die Verlegerin ist derzeit sehr zufrieden. «Wir sind gerade in einer richtigen Blütezeit. 2020 war ein verdammt starkes Jahr von den Inhalten her. Die Verlagsgruppe konnte um elf Prozent zulegen. Ohne Corona wäre das Jahr wohl noch besser gelaufen.»

Zu den Klassikern gesellen sich gleichzeitig immer wieder neue starke Figuren, wie die Müll fressenden Olchis oder das Meermädchen Alea Aquarius. Silke Weitendorf erinnert sich zudem an eine besonders riskante Entscheidung: «Wir haben die Rechte für drei Bücher aus Amerika gekauft. Noch nie zuvor hatten wir so tief in die Tasche gegriffen. Aber es hat sich gelohnt.» Das Geld floss an Suzanne Collins und ihre «Tribute von Panem». Der Rest ist Geschichte. 2020 gehörte der vierte Band der Reihe um Kämpferin Katniss Everdeen und den unerbittlichen Präsident Snow zu den umsatzträchtigsten des Jahres. Bis heute wurden etwa fünf Millionen deutschsprachige Exemplare der Reihe verkauft.

Seit der Gründung hat die Verlagsgruppe rund 3000 Bücher veröffentlicht. Etwa 2000 Manuskripte bekommt Oetinger jedes Jahr unaufgefordert zugeschickt – auch handschriftliche. Gelesen wird alles, doch nur etwa ein Prozent davon wird veröffentlicht. «Wir lesen alles. Sonst geht uns so was wie «Paule» von Kirsten Boie durch die Lappen», sagt Bielenberg. «Paule ist ein Glücksgriff» ist das erste Kinderbuch der Hamburger Autorin, die mittlerweile zu den wichtigsten des Verlages gehört.

Die Digitalisierung geht voran

Mit dem Umzug des Verlages vom Apfelhof in Duvenstedt in einen alten Speicher in Hamburg-Altona sollte auch der Wandel hin zu einem zukunftsorientierten Verlag nach außen hin gezeigt werden. Wohin die Reise gehen wird, sei aber noch im Fluss, sagt Bielenberg dazu. Für das junge Publikum gehören Smartphones zum Alltag. Bücher werde es dennoch immer geben. «Aber unsere Ansprache wird digitaler, damit die Geschichten trotzdem die Kinder erreichen. Und es wird interaktiver, weil sie mitgestalten, sich austauschen und den gläsernen Autor kennen wollen.» Für die Kleinsten aber setzt der Verlag weiter auf Bilderbücher ohne Apps und digitalem Angebot. «Gerade Pappbücher haben gute Umsatzahlen», so Bielenberg.

Doch wohin die Reise auch gehen wird: Der Oetinger-Verlag will dabei von der Schnelllebigkeit nicht getrieben werden, sondern selbst Impulse setzen. Dabei hält es Bielenberg auch mit dem Motto der vielen Verlagshelden: «Wir wollen mutig sein und neue Wege finden – auch wenn sie digital sein werden – und dabei gleichzeitig an unseren Traditionen festhalten.»

Von Christiane Bosch, dpa