Deutschland, eine Terrasse: So viel Draußen war vielleicht nie – angesichts des warmen Wetters, der gesunkenen Corona-Zahlen, steigenden Impfquoten und wieder geöffneten Cafés und Restaurants.
Ein frisch gezapftes Bier schmeckt in der Außengastro gefühlt tausendmal besser als noch vor dem Lockdown. Doch liegt über diesem Sommer auch ein Gefühl der Spaltung: Team Lockern gegen Team Vorsicht, Ärger über zu lautes Partyvolk auf den Straßen statt in Clubs, die umstrittene Fußball-Europameisterschaft, der Bundestagswahlkampf, eine Unruhe.
Die Monate seit November fühlten sich an wie ein langer Winterschlaf. Wiedererwacht scheinen viele Menschen jetzt dankbarer für Kleinigkeiten zu sein. Der Psychologe Simon Hahnzog sieht aber auch Konfliktpotenzial: Schon 2020 habe gezeigt, dass Freunde, Verwandte, Kollegen andere Bedürfnisse beim Kontakt hatten als man selbst. «2020 hat das manchmal schon Risse in Beziehungen erzeugt, manche dieser Risse haben sich aber 2021 zu Gräben ausgeweitet.»
Der Sommer 2021 könnte trotzdem entspannt werden. Auch Comedy-Star Carolin Kebekus meint: «Der Sommer wird gut.» Zumindest sang die Komikerin dies in ihrer ARD-Show wie ein Mantra in der Popsong-Satire «La Vida Sin Corona» (Das Leben ohne Corona) – mit selbstironischen Einwürfen von Bedenkenträger Karl Lauterbach.
«Sonne, Strand, Sommerglück, Das Leben kehrt wieder zurück, Partys in der Bar und wir kommen uns nah» – und Lauterbach: «Es besteht durchaus noch Ansteckungsgefahr.» Oder aber: «In der vollen Bahn fassen wir uns an» – «Wovon ich nur dringend abraten kann.»
Mit erneutem exponentiellem Wachstum der Corona-Fallzahlen und einer vierten Welle rechnet das Robert Koch-Institut (RKI) zurzeit nicht. Virologen mahnen aber, dass man nicht glauben dürfe, das Virus sei verschwunden. Expertinnen und Experten wie der Charité-Virologe Christian Drosten schätzen den Sommer 2021 ganz anders ein als den Sommer 2020. Das Virus sei heute viel regelmäßiger in der Bevölkerung verteilt, sowohl geografisch als auch in den Altersgruppen.
Die Aussagekraft der Inzidenz verändert sich aber dank Impfungen. Weniger schwere Verläufe und Todesfälle dürften endlich auch das Gesundheitssystem entlasten. Außerdem gibt es den «Sommereffekt», der vor allem auf den geringeren Anteil von Kontakten in Innenräumen zurückgehe und nicht etwa auf die Temperaturen oder UV-Strahlung.
«Der Trend ist, möglichst viel draußen anzubieten», sagt Thorsten Hellwig, Sprecher des Gastronomie-Branchenverbands Dehoga im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Der Trend zur Außengastronomie sei durch die Corona-Pandemie noch intensiver geworden. Deutschland – ein Möchtegern-Italien.
Die Biergärten sind offen, das Lieblingslokal hat hoffentlich überlebt – und nach gefühlter Ewigkeit sehen viele neben Familie und Freunden auch die oberflächlichen Kontakte wieder. «Ganz schön pummelig geworden», denkt mancher, wenn er die Bedienung vom Restaurant um die Ecke oder den Fitnessstudiokumpel wiedersieht.
Millionen Menschen gewöhnen sich derzeit wieder daran, unter Leuten zu sein, die Lockdown-Erinnerungen verschwimmen, die Angst vor dem normalen Leben verfliegt. Das sogenannte Cave-Syndrom (Höhlensyndrom), bei dem Menschen ernsthaft Probleme damit haben, sich mit der wiedergekehrten Freiheit und Normalität im öffentlichen Raum zu arrangieren, scheint, wenn man sich so umschaut, kein Massenphänomen zu sein.
Über der Republik liegt dennoch eine Art Mehltau – es herrscht ein bisschen Abschiedsstimmung. Bundestrainer Joachim Löw hört nach 15 Jahren auf, Bundeskanzlerin Angela Merkel nach 16 Jahren. Darüber hinaus ahnen viele, dass Corona wohl einiges langfristig verändern wird und vieles nie mehr so sein wird, wie es mal war.
Die Frage ist: Kippt dabei die Stimmung? Gibt es in den kommenden Wochen zum Beispiel mehr Randale, so wie es in einigen Städten schon der Fall war, wobei auch mal die Polizei angegangen wurde?
«Die Kultur wird in den nächsten Monaten eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung der Pandemie spielen», meint die saarländische Kulturministerin Christine Streichert-Clivot. Einige Theater wie etwa die Schaubühne in Berlin lassen nach der langen Schließung ihre Sommerpause ausfallen und spielen durch.
Die Fußball-EM taugt derweil nicht ganz so als Frustlöser, wie viele wohl erwartet hätten. Die Einschaltquoten sind eingebrochen. Selbst das erste Deutschlandspiel gegen Frankreich verfolgten gut 15 Prozent weniger als vergleichbare Turnierauftakte des letzten Jahrzehnts.
Die EM hat eine Größenordnung, die man bei Veranstaltungen aus Sorge vor Superspreader-Events lange nicht gesehen hat. Trotz Hygienekonzepten in den Stadien spukt durch viele Köpfe die Frage «Muss das sein, dass da so viel rumgereist wird?».
Das Kicker-Business schien aber die ganze Zeit systemrelevanter zu sein als etwa Schauspiel und Musik als Live-Events – und das obwohl der DFB für die Spiele der 1. und 2. Bundesliga vor Corona nur etwa 19 Millionen Besuche zählte, während der Deutsche Bühnenverein in der letzten Spielzeit vor dem Ausbruch der Pandemie (2018/19) allein bei den öffentlich getragenen Theatern, Festspielen, Sinfonie- und Rundfunkorchestern rund 35 Millionen Besuche verzeichnete.
Das Lebensgefühl des Sommers ’21 ist vielleicht mit Übergangszeit ganz gut umrissen. Vergangenen Sommer war noch unklar, wann Impfstoffe überhaupt marktreif sein würden, diesen Sommer wird gespannt gewartet, ob am Ende genügend Bürgerinnen und Bürger das Impf-Angebot vom Staat annehmen. Und dann auch, ob es in Berlin weiterhin Bundeskanzlerin heißt oder wie früher Herr Bundeskanzler.