Wenn eine Opern-Inszenierung besser und bedeutender wird, je länger sie läuft, dann heißt das vor allem eines: dass der Regisseur eine Entwicklung frühzeitig erkannt und aufgegriffen hat, dass die Wirklichkeit die Bühnenrealität eingeholt hat.
Für wenige Produktionen gilt das so sehr wie für Barrie Koskys «Die Meistersinger von Nürnberg» bei den Bayreuther Festspielen. Seit Kosky, der erste jüdische Regisseur der Festspielgeschichte, 2017 mit seiner Interpretation erstmals unbequeme Fragen nach der antisemitischen Gesinnung Richard Wagners stellte und nach der Geschichte der Festspiele, dem wohl liebsten Musikevent Adolf Hitlers, ist viel passiert in Deutschland.
Ein Rechtsextremist hat versucht, in Halle die Synagoge zu stürmen und dabei zwei Menschen getötet. Während des gewaltsamen Konflikts zwischen Israel und militanten Palästinensern im Gazastreifen im Mai dieses Jahres kam es zu antisemitischen Vorfällen in Deutschland. Hass und Gewalttaten gegen Juden sind zu erschreckenden Regelmäßigkeiten geworden – und die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, betonte unlängst, dass vor allem junge Juden inzwischen verstärkt mit dem Gedanken spielten, das Land zu verlassen.
Und so schleicht sich am Montagabend im Bayreuther Festspielhaus das Gefühl ein, die große Uhr, die über dem Bühnenbild der Kosky-Inszenierung thront, die immer wieder rückwärts läuft und schließlich um Viertel vor zwölf stehenbleibt – sie scheint sich immer schneller zu drehen. Mit Vollgas zurück in eine dunkle Vergangenheit. In einer der Schlüsselszenen schmettern die Sänger auf der Bühne dem Publikum entgegen: «Wacht auf!» Die Zeit wird knapp.
Kosky inszeniert Wagners einzige komische Oper als knallharte Mobbing-Geschichte, dessen Opfer der einzige jüdische Charakter in dem Stück ist. Bei Kosky ist Wagner mit seinem Alter Ego Hans Sachs (Michael Volle) aus den «Meistersängern» identisch. Er gießt auch den jüdischen Kapellmeister Hermann Levi und den Beckmesser aus der Oper in eine Figur – ebenso die weibliche Hauptfigur Eva (Camilla Nylund) und Richard Wagners Ehefrau Cosima.
Die Inszenierung beginnt kuschelig im Haus Wahnfried, wo Wagner seine kleinen Macken (Hunde-Begeisterung, eine Vorliebe für zweifelhaft riechende Parfüms und Konsum aller Art) zelebriert und mit ebensolcher Vorliebe auf dem Juden Levi herumhackt – und endet im Saal der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.
Dort wird der Jude Levi zu Beckmesser, dem Juror im Sängerwettstreit. Für Kosky ist er die zentrale Figur in der Oper. Als Beckmesser nach zahllosen Sticheleien von Sachs schließlich von einer Menschenmenge attackiert und verprügelt wird (auf Worte folgen nunmal fast immer Taten), verpasst Kosky ihm die Maske eines Juden-Zerrbildes – und bläst es nochmal groß auf. Kosky stellt auch dem Publikum die unangenehme Frage: Wie umgehen mit diesem Gegensatz? Und wie – gerade in Zeiten wie diesen – umgehen mit dem Werk eines Antisemiten?
Minutenlangen Applaus gibt es nach der Aufführung – vor allem für Volle als Sache und Klaus Florian Vogt als Stolzing – und einsame, erwartbare Buhs für Kosky und einige unerwartete auch für den Dirigenten Philippe Jordan. Dirigenten haben es traditionell in Bayreuth sehr viel leichter beim Publikum als Regisseure.
Ein Großteil des Applaus gebührt dabei einem Mann, der eigentlich gar nicht eingeplant war für die Aufführung: dem dänischen Opernsänger Bo Skovhus, der den Opernabend buchstäblich in letzter Sekunde gerettet hat. Weil Beckmesser-Darsteller Johannes Martin Kränzle gesundheitlich angeschlagen nicht singen konnte, half Skovhus kurzfristig aus. Er sang vom Bühnenrand aus, während Kränzle stumm spielte. Skovhus war erst unmittelbar vor seinem Auftritt angekommen, die Festspiele hatten gebangt, ob er es rechtzeitig schafft.
Dankbaren Applaus gab es dann auch für ihn – nicht nur vom Publikum, sondern vom ganzen Team um Regisseur Kosky, der in den kommenden Jahren schmerzlich fehlen dürfte auf dem Bayreuther Spielplan.