Billy Summers ist gut in dem, was er tut. Er tötet Menschen. Aber nur die, die es verdient haben – darauf legt Billy großen Wert. Das Schießen kann er, das hat er beim Militär gelernt und im Irak-Krieg zur Genüge geübt.
Aber Billy Summers verspürt keine große Lust daran, Menschen umzubringen. Er ist nun 44 Jahre alt, will nur einen allerletzten Auftrag über die Bühne bringen, um sich dann zur Ruhe zu setzen und ein neues Leben zu beginnen. Auch wenn Billy Summers genau weiß, dass solche letzten Aufträge im Film immer in die Hose gehen. Zwei Millionen Dollar Gage sind einfach zu verlockend. Billy nimmt an.
Eigentlich ist Stephen King ja im Horror zu Hause. In seinem neuen Buch entführt er den Leser in die Gedankenwelt eines Auftragsmörders. Das Buch ist vieles, aber keine Gruselstory. Übersinnlichen Spuk sucht man vergeblich – auch wenn mal kurz die Überreste des gruseligen Overlook Hotels am Horizont auftauchen, Schauplatz einer ganz anderen berühmten King-Geschichte, dem 1977 publizierten Roman «Shining». Trotzdem erzählt King auf mehr als 700 Seiten eine unglaublich packende Geschichte. Hier sind die Menschen die Monster.
«Billy Summers» ist gleichzeitig Gangsterstory, Roadmovie-Buch, Charakterstudie und Thriller – mit einem Hauch von Western, mit einem Hauch von Film noir. Stoff, aus dem Martin Scorsese einen Film drehen könnte. Stephen King verwebt zwei Erzählstränge: den Krimiplot, bei dem sich der Killer Billy mit falschen Identitäten in einer US-amerikanischen Kleinstadt verschanzt, um auf seinen perfekten Schuss zu warten. Und eine Autobiografie, die dieser Killer verfasst, während er sich in dem Städtchen versteckt – um sich die Zeit zu vertreiben und um sich selbst ein Stück weit zu heilen.
Denn Billy Summers hat es alles andere als leicht gehabt in seinem Leben. Schon als Kind wird er zum Mörder. Dazu hat er allen Grund: Der elfjährige Billy muss mit ansehen, wie der gewalttätige Freund seiner dauerzugedröhnten Mutter sein kleines Schwesterchen tot prügelt. Billy greift daraufhin zur Waffe und erschießt den Mann. Später kommt er zu einer Pflegefamilie, dann zum Militär, wo er als Scharfschütze blutig-traumatische Erfahrungen macht. Nach dem Auslandseinsatz gerät er in Mafiakreise, verdingt sich als Auftragskiller. Dabei spielt er gegenüber seinen Geschäftspartnern den Einfältigen, um unterschätzt zu werden. Achtzehn Menschen hat er auf dem Kerbholz – nur schlechte natürlich.
Nun steht die Nummer neunzehn an. Bei seinem letzten Auftrag lebt er unter falschen Namen in der Kleinstadt Red Bluff, um eins zu werden mit der Umgebung. Doch dann gerät er selbst ins Fadenkreuz von Mördern. Auf der Flucht lernt er jemanden kennen, der sein Leben für immer verändern wird. Es geht um Moral, Rache, Gerechtigkeit – und ein paar Leichen auf dem Weg.
Stephen King sprudelt auch mit 73 Jahren noch mit Stoff, der einen kaum aufs Klo gehen lässt. Der Mann ist eine Geschichten-Produktions-Maschine im Dauerbetrieb. Dabei geht King mit der Zeit. Seine Protagonisten lästern über Trump und schauen Serien auf Netflix. Die Handlung spielt ein halbes Jahr, bevor die Corona-Pandemie die Welt in den Stillstand versetzt. Aber davon ahnt Billy Summers nichts – er hat seine eigenen Probleme. Mit jeder Seite nimmt die Geschichte an Fahrt auf – hin zu völlig überraschenden Wendungen. Dem Leser bleibt nicht anderes übrig, als die Seiten einzusaugen.
«Billy Summers» könnte der beste King seit langer Zeit sein. Hoffentlich noch lange nicht der letzte.
Stephen King: Billy Summers, Heyne, 720 Seiten, 26,00 Euro, ISBN 978-3-453-27359-7