Die Sommer länger, die Musik schöner, die Fotos bleibender (Papier), die Telefonate verbindlicher (Festnetz), das Fernsehen verbindender und Weihnachten war natürlich sowieso mehr Lametta – Sie wissen schon.
Früher war alles besser, wird schnell gesagt. Und angesichts des ABBA-Comebacks und des ZDF-Revivals von «Wetten, dass..?» mit Thomas Gottschalk und weiteren wiederbelebten Fernsehformaten wie «TV total» und «Geh aufs Ganze» steht derzeit die Frage im Raum, ob es 2021 eigentlich besonders viel Nostalgie gebe.
«Nostalgie», das ist dem «Duden» zufolge eine «vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste» Gestimmtheit, die sich in der «Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert», deren Mode, Kunst, Musik oder sonst was man dann wiederbelebe.
So weit, so gut. Mit dem Begriff «Nostalgie» hat es jedoch eine besondere Bewandtnis, wie der Historiker Tobias Becker sagt. Im Deutschen sei das Wort erst seit 50 Jahren gebräuchlich, sagt Becker vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er arbeitet derzeit an seinem Habilitationsprojekt «Yesterday: A New History of Nostalgia».
Das Fremdwort «Nostalgie» ist laut Becker 333 Jahre alt. Der Arzt Johannes Hofer erfand es 1688 für ein medizinisches Phänomen, nämlich ein starkes Heimweh, das schweizerische Söldner in der Fremde befiel und schwer krank werden ließ. Laut Tobias Becker nahm sich Hofer die Begriffe «Nostos» (Heimkehr) und «Algos» (Schmerz) bei Homer und setzte sie zusammen. «Nostalgie» und «Heimweh» waren lange Zeit dasselbe. Doch die zwei Begriffe entwickelten sich auseinander.
«Im Angelsächsischen löste sich das Wort nach etwa 200 Jahren langsam vom Raum ab und beschrieb nun weniger die Heimat, den Ort, wo man Kind war, sondern ging stattdessen eher auf die Zeit über. Man sehnte sich nicht mehr nach einem Ort, sondern bezog sich mehr und mehr auf eine frühere Zeit», so Becker. «Nostalgia» kannten in Mitteleuropa bis in die 1960er Jahre höchstens Exilanten wie Theodor W. Adorno.
Anfang der 1970er kam die Nostalgie, angewandt auf die Populärkultur, dann im großen Stil aus Amerika nach Deutschland. 1973 gab es eine «Spiegel»-Titelstory: «Nostalgie – Das Geschäft mit der Sehnsucht». Der Artikel nannte Nostalgie eine «Modevokabel der Kulturszenerie».
Der Begriff Retro passt besser zur Popkultur
«Die meisten Phänomene, auf die das Wort bezogen wurde und wird, sollen immer so einen kritischen negativen Beigeschmack damit erhalten», sagt Becker. Er sieht die Nostalgie aber zu Unrecht in Verruf. «Die Nostalgiekritik basiert auf der Annahme, dass immer irgendwie alles neu sein müsse, aber fast alles in der Kultur geht immer auf irgendein Vorbild zurück und macht dann damit etwas Neues. Inspiration kommt nie aus dem Nichts, sondern aus dem Rückbesinnen.»
Außerdem sei Pop meist «komplizierter und intelligenter als reines Zurückblicken». Künstler rekonstruierten nicht bloß die alte Zeit und führten Altes wieder auf, sondern setzten meist auf Modernisierung und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart.
Becker bevorzugt beim Bezug auf Popkultur statt Nostalgie sowieso ein anderes Wort, um den positiven Aspekt zu betonen: «Ich spreche lieber von „Retro“, weil der Begriff sehr viel offener ist und irgendwie auch neutraler.» Bei den meisten Menschen sei alles, was retro ist, sehr angesagt. «Retro ist im Fernsehen, im Kino, bei den Streamingdiensten, in der Musik – einfach überall.» Und es komme nicht in Wellen, wie der gern genutzte Begriff Nostalgiewelle nahelege. «Es ist immer da, es ist eher die Aufmerksamkeit, die manchmal mehr und manchmal weniger dafür da ist.»
«Wetten dass..?» als Zeitkapsel
Der Moderator und Autor Micky Beisenherz schrieb in seiner «Stern»-Kolumne über die ZDF-Show mit Gottschalk: «“Wetten, dass..?“ ist antiquierter Quatsch. Gelebter Stillstand. Eine Zeitkapsel. Eine Auffrischungsimpfung gegen zu viel 2020er.» Sie sei «lustvolle Rückwärtsgewandtheit» gewesen und «ein Safe Space für Boomer». Dennoch würde sich laut einer aktuellen Yougov-Umfrage mehr als ein Drittel der Befragten «Wetten, dass..?» zurück im TV wünschen.
Historiker Becker meint: «In der Berichterstattung über diese Show wird viel darüber nachgedacht, welche Bedeutung noch das lineare Fernsehen hat, ob es noch etwas gibt, was unsere gespaltene Gesellschaft zusammenführen kann. Es werden also die ganzen Fragen, die uns ohnehin beschäftigen, gern an solchen Produkten durchgespielt.» Und deutlich sei auch geworden, dass eine Retroshow nicht nur wohlige Gefühle und Erinnerungen als frischgebadetes Kind im Bademantel vor der Glotze auslöse, sondern auch abstoßend wirken könne, etwa was Altherrenwitze und die ganzen alten Rituale angehe.
Becker gibt zu bedenken, dass jede Kritik an Retro und Nostalgie, die angeblich nur wegwischen und verschleiern wolle, selbst zu einer Art Nostalgie werden könne: «Es ist ein Problem der Nostalgiekritik, dass sie, wenn sie Nostalgie als neues Phänomen beschreibt, damit nahelegt, es habe eine bessere Zeit vor der Nostalgie gegeben.»