Temperaturen von mehr als 30 Grad und hitzige politische Debatten: Der Start der documenta fifteen in Kassel am Wochenende war schweißtreibend und spannungsgeladen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnete die neben der Biennale in Venedig weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst am Samstag. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch bei der 15. Ausgabe der Schau seit 1955 hatte das Staatsoberhaupt nach eigener Aussage zuvor Zweifel an seiner Teilnahme. «Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier sein würde», sagte Steinmeier.
Selten habe eine documenta im Vorfeld eine so heftige und kritische Debatte hervorgerufen wie die diesjährige, sagte Steinmeier in seiner Eröffnungsrede mit Blick auf die Antisemitismus-Debatte um die diesjährige Schau. Dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa war von einem Kasseler Bündnis vorgeworfen worden, auch Organisationen einzubinden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützten oder antisemitisch seien.
Politiker beziehen Stellung
«Wir alle wissen: Kunst ist nicht streitfrei zu haben», betonte Steinmeier. Die Kunstfreiheit sei ein wichtiger Pfeiler demokratischer Gesellschaften, habe aber auch ihre Grenzen. «Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen.» Kritik an israelischer Politik sei erlaubt. «Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.» Er habe im Vorfeld der Schau «manchen gedankenlosen, leichtfertigen Umgang mit dem Staat Israel» beobachtet, so Steinmeier weiter. Die Anerkennung Israels sei in Deutschland aber Grundlage und Voraussetzung der Debatte. «Es fällt auf, wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind.»
Auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) betonte am Samstag, er nehme den Antisemitismus-Vorwurf sehr ernst. «Deutsche Politiker können dazu nicht einfach so sang- und klanglos nichts sagen, wenn im Land der Täter der Shoah der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wird», sagte er. «Wer ein freiheitliches und ein lebenswertes Land will, der kann Antisemitismus nicht dulden.» Das gelte auch für «die heimlichen Spielarten der Israel-Kritik als Ersatz-Antisemitismus».
Kritik an den verantwortlichen Machern der documenta fifteen übte auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung. «Es ist den Verantwortlichen der documenta nicht gelungen, die Antisemitismus-Vorwürfe in glaubwürdiger Weise auszuräumen. Das bedaure ich sehr, insbesondere nach der hierzu erhitzt geführten öffentlichen Diskussion», sagte Felix Klein der «Bild am Sonntag». Er teile die kritische Einschätzung des Bundespräsidenten. «Es kann nicht sein, dass Antisemitismus Teil des von der öffentlichen Hand geförderten künstlerischen Diskurses in Deutschland ist.»
In den zurückliegenden Wochen sei es der documenta fifteen leider nicht vollständig gelungen, «den von ihr selbst erzeugten Eindruck zu widerlegen, man würde dem israelbezogenen Antisemitismus mit Hilfe mindestens eines künstlerischen Beitrags mittelbar ein Podium ermöglichen», monierte auch der Antisemitismusbeauftragte der Hessischen Landesregierung, Uwe Becker.
Verbindung zu Picassos «Guernica»
Gemeint ist damit der Beitrag der palästinensischen Gruppe The Question of Funding, an der sich die Antisemitismusdebatte um die documenta fifteen entzündete. Dabei kombiniert etwa Mohammed Al Hawajri in seiner Serie «Guernica Gaza» Bilder von Angriffen der israelischen Armee auf das Palästinensergebiet mit klassischen Motiven von Millet, Delacroix, Chagall oder van Gogh. Der Serientitel stellt eine Verbindung her zum Gemälde «Guernica» von Pablo Picasso – es entstand 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der spanischen Stadt durch einen Luftangriff der «Legion Condor» Nazi-Deutschlands.
Die künstlerische Gleichsetzung der Verbrechen des faschistischen Deutschen Reiches während des spanischen Bürgerkrieges mit den Handlungen der israelischen Armee lasse kaum Zweifel an der Absicht der Künstlerinnen und Künstler in der Diffamierung Israels zu, erklärte Becker. «Wer Guernica und Gaza in eine Reihe stellt, befördert den israelbezogenen Antisemitismus im Gewande der Kunstfreiheit.» Es liege an der documenta, sich für den weiteren Verlauf der Ausstellung umso deutlicher gegen jegliche Form des Antisemitismus zu positionieren und auch Grenzen der Kunstfreiheit aufzuzeigen.
Kleinere Kundgebungen
Wie zuvor Bundespräsident Steinmeier in seiner Ansprache am Samstag forderte der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, von der documenta-Geschäftsführung und der Stadt Kassel sowie dem Land Hessen als Gesellschafter der Schau, umgehend eine offene Debatte zu den Vorwürfen zu führen – nach dem Willen Zimmermanns unter Einbeziehung des Zentralrates der Juden.
Vor dem Hintergrund der politischen Debatte um die documenta wurde der Eröffnungstag in Kassel von kleineren Kundgebungen pro-palästinensischer und pro-israelischer Gruppen begleitet.
Neben Steinmeier und Rhein waren am Samstag auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und der Botschafter der Republik Indonesien, Arif Havas Oegroseno, nach Nordhessen gekommen. Wegen des Besuchs der Politiker unter hohen Sicherheitsvorkehrungen blieben am Vormittag noch einige Ausstellungsgebäude für die Öffentlichkeit geschlossen, obwohl die Schau bereits lief. Von Samstagmittag an strömten dann Tausende Besucher an die 32 Standorte, um sich selbst ein Bild von der so viel diskutierten Kunst zu machen. Zu sehen ist sie noch bis zum 25. September.