Was ist Liebe? Wie reagiere ich selbst, wenn ein Mensch ausgegrenzt wird, in Not ist, meine Hilfe braucht? Stehe ich ihm bei oder spotte und hetze ich mit der Masse, wende mich ab, führe mein bequemes Leben weiter?
Das diesjährige Eröffnungsstück «Notre Dame» der Bad Hersfelder Festspiele wirft große Fragen des Menschseins auf in einer Zeit, in der Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt nötiger denn je sind. Zur Premiere am Freitagabend gibt es viel Beifall für die Inszenierung von Intendant Joern Hinkel und das Ensemble um «Tatort»-Star Richy Müller und Anouschka Renzi, auch Jubelrufe mischen sich in den Applaus.
Einblicke ins Innere der Figuren
Zusammen mit dem Dramaturgen Tilman Raabke hat Hinkel Victor Hugos Roman-Klassiker «Der Glöckner von Notre-Dame» im wahrsten Sinne des Wortes in die heutige Zeit übersetzt. Dem Original – ein schillerndes Sittengemälde der Renaissance mit ausschweifenden Beschreibungen der Zustände im Paris des ausgehenden 15. Jahrhunderts – verschaffen sie in ihrer Bühnenfassung dank des raffinierten Wechselspiels von Erzählung und darstellendem Spiel immer wieder Geltung. Um dem Zuschauer Einblicke ins Innere zu eröffnen, sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Gedanken, Wünsche, Absichten zum Publikum gewandt laut aus, um dann wieder unmittelbar ins Handeln auf der Bühne zu wechseln. So entsteht der Eindruck, zugleich dieses Werk der Weltliteratur zu lesen und es auf der Bühne als Schauspiel zu erleben.
Wer bei «Notre Dame» vor allem den 1956 gedrehten und als schwülstige Liebesgeschichte inszenierten Film mit Gina Lollobrigida als Esmeralda und Anthony Quinn als Glöckner Quasimodo vor Augen hat, bekommt dank der Bad Hersfelder Version einen neuen, weit tieferen Blick auf das vielschichtige Werk Hugos. Der Tanz der schönen Esmeralda, mädchenhaft-anmutig und zugleich selbstbewusst verkörpert von Cathrine Sophie Dumont, setzt eine Spirale von Liebe, Eifersucht, Hass und sogar Mord in Gang. Die Fäden im Hintergrund zieht der düstere, bisweilen diabolische Erzdiakon Claude Frollo, den Richy Müller in all seiner inneren Zerrissenheit zwischen Liebe und Besitzanspruch, Berufung und verzweifelter Begierde darstellt.
Robert Nickisch brilliert als Quasimodo
Anouschka Renzi, die gleich vier Rollen in dem Stück übernommen hat, besticht vor allem als Puffmutter Madame Falouradel. Lakonisch und kokett, manchmal schnodderig, mit Witz, Charme und großer Bühnenpräsenz ordnet sie den Zuschauern die Ereignisse mal erzählend ein und ist dann wieder Teil des Geschehens, wenn sie etwa als Zeugin vor dem Richter die Bluttat an dem eitlen Hauptmann Phöbus (Oliver Urbanski) schildert – die sich später doch nicht als tödlich herausstellt.
Begeistert zeigt sich das Publikum auch von der Leistung von Robert Nickisch als körperlich eingeschränkter Glöckner Quasimodo, eine geschundene Seele, verlacht und von der Gesellschaft ausgestoßen, und gerade deshalb derjenige, der Esmeralda mit selbstloser Liebe zur Seite steht und sie beschützen will. Mit nur wenigen Sätzen und viel Körpersprache zeichnet Nickisch diese Figur, die reinen Herzens ist und verdeutlicht, worauf es ankommt: «Du hast Glück, Du wirst geliebt», ruft er Phöbus zu.
Unterstrichen wird die Schauspielkunst durch 3D-Spezialeffekte, die die Kulisse der Pariser Kathedrale Notre-Dame in die Stiftsruine holen. Mit dem sogenannten Mapping lassen Maximilian Pfisterer und Sheidan Zeinalov dreidimensionale Dämonen aus dem Mauerwerk wachsen, Flammen am Kirchenschiff züngeln und machen die Erschütterungen erlebbar, als das Volk die Pforte der Kathedrale aufbrechen und sie stürmen will. Für das Bühnenbild hat Jens Kilian fahrbare Elemente entwickelt, die zu Häusern, einem Bordell, dem Inneren der Kathedrale, dem Gefängnis werden und von den Darstellern selbst bewegt werden. Für die Kostüme – eine gelungene Mischung aus historischen Anleihen mit teils karikaturhafter Überzeichnung und moderner Schlichtheit – ist Daniela Selig verantwortlich.
Beim Publikum findet die Inszenierung großen Anklang – wenngleich der Schatten des Krieges in der Ukraine über dem Theaterabend liegt. Doch gerade in diesen Zeiten ist Kunst und Kultur, die Auseinandersetzung mit den Werten von Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde und mit dem eigenen Handeln wichtig, sind sich die Rednerinnen und Redner beim Festakt einig. Victor Hugo halte der Gesellschaft den Spiegel vor, Antworten müsse aber jeder für sich finden, sagt Intendant Hinkel.