Als Ulrich Tukur den Raum betritt, fühlt sich das an wie der Beginn einer Zeitreise. Millionen Menschen kennen den Schauspieler etwa aus dem «Tatort». An einem Berliner Sommertag kommt er nun mit Strohhut und Hund zum Interview.
Das Hemd, das wird er gleich erzählen, sei ein Original aus den 1920er Jahren. Wiederentdeckt in einem Lagerraum auf der Schwäbischen Alb.
Wenn man Tukur so erlebt beim Gespräch, ist das ziemlich interessant. Diesen Freitag (29. Juli) wird er 65 Jahre alt. Manche Dinge, die er sagt, klingen so, als wäre er eigentlich noch etwas älter. Charmant, freundlich, schlagfertig beginnt das Gespräch im Berliner Schiller Theater. Anfangs geht es um Smartphones.
Ihn deprimiere es, dass Menschen «ohne diese vermaledeiten Leuchtschachteln» nicht mehr existieren könnten, sagt Tukur. Er selbst hat noch ein älteres Handy. «Ich brauche ein Telefon zum Telefonieren und vielleicht für eine SMS.» Tastentelefone sind aber auch bei manchen jungen Leuten wieder beliebt.
Der letzte wirkliche Mensch
«Ach, wirklich?», fragt Tukur. Er habe nie etwas anderes besessen. Die Erkenntnis, dass man scheinbar der letzte wirkliche Mensch in Bus und Bahn und übrigens auch auf einem venezianischen Vaporetto sei, sei einigermaßen phantastisch. «Meine Zeitgenossen sind zwar sichtbar – aber sie sind nicht da, wo sie sind», sagte der Schauspieler. Sie hingen stattdessen in irgendeiner Wolke.
Geht man durch, welche Filme Tukur schon gedreht hat, dann sind darunter Projekte wie «Stauffenberg», «Das Leben der Anderen» und «John Rabe», aber auch Komödien wie «Und wer nimmt den Hund?». Tukur macht Musik – mit seinen Rhythmus Boys ist er wieder in vielen Städten auf Tour. Und er veröffentlicht Literatur, etwa die Novelle «Die Spieluhr» und den Roman «Der Ursprung der Welt».
Ist er eigentlich ein altmodischer Mensch? Tukur entgegnet: Wie könne man denn in einer Welt, die den Menschen zwinge, sich mit Maschinen zu verbinden und die jede Autonomie Schritt für Schritt abschaffe, anders als altmodisch sein? «Vielleicht bin ich sogar reaktionär.» Aber weil man leider nicht in der Zeit zurückspringen könne, habe er sich das Theater als Fluchtpunkt gewählt.
Sehnsucht nach Italien
Dort und im Film könne man sich eine Welt bauen, sagt Tukur. Und erzählt unter anderem von seiner Theaterzeit, von früheren Kollegen wie Peter Zadek und Uwe Bohm. Und von seiner Sehnsucht zurück nach Italien. Mittlerweile wohnt Tukur in Berlin, aber davor lebte er viele Jahre in Venedig und der Toskana.
«Die Menschen dort rühren mich», sagt Tukur. Zwar sei Italien in vielen Bereichen ein dysfunktionales und anstrengendes Land – «deswegen sind wir auch gegangen» – aber die Menschen seien entspannt und von großer Offenheit. «Sie haben einen Benimm, der bei uns wegbröckelt.» Dort gehöre es zur Mentalität der Menschen, einen nicht zu beurteilen, sondern einem mit Neugier entgegenzutreten und großzügig zu sein.
Mit den Urteilen anderer Leute hat Tukur zuletzt selbst Erfahrungen gemacht, als er bei der Aktion #allesdichtmachen mitmachte. Leute aus der Kulturszene hatten mit Videos die Politik in der Coronakrise kommentiert. Daran gab es viel Kritik. Tukur findet, die Aktion sei kein Fehler gewesen.
Sie sei vielleicht blauäugig und nicht auf allerhöchstem satirischen Niveau gewesen, aber trotzdem der ehrliche Versuch, sich gegen die «behauptete Alternativlosigkeit einer hysterischen Einschlusspolitik zu wehren», meint Tukur. Danach seien sie in die Skandal-Ecke getreten worden, irgendwelchen undurchsichtigen politischen Zirkeln zugeordnet worden. Das habe in keinem Verhältnis gestanden.
Todesanzeigen im Kinderzimmer
Recherchiert man zu Tukur, stößt man auf eine Anekdote. Stimmt es, dass er früher Todesanzeigen aus der «FAZ» aufgehängt hat? «Stimmt», antwortet er. Sein Vater habe die Zeitung damals abonniert gehabt. Als ihm klar geworden sei, dass auch er eines Tages werde sterben müssen, sei das ein Thema gewesen und er habe angefangen, Schädel und Skelette zu malen. Dann seien ihm die Todesanzeigen aufgefallen.
«Es waren auch noch Eiserne Kreuze darunter, mit denen an die Gefallenen des Weltkriegs erinnert wurde», erinnert sich Tukur. Er habe das herrlich morbid und grafisch so interessant gefunden, dass er die Wände seines Kinderzimmers damit tapeziert habe. «Meine Mutter hat einen Schreikrampf gekriegt.»