«Nullerjahre» über eine Jugend voller Wut und Angst
Die Schauspieler Annika Hauffe und Oscar Hoppe im Stück "Nullerjahre" am Mecklenburgischen Staatstheater. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Jens Büttner/dpa)

Tausende Kids sind aufgewachsen wie er: Hendrik Bolz alias Testo vom Rap-Duo Zugezogen Maskulin hat seine Kindheit und Jugend im ostdeutschen Plattenbau verbracht, im Stralsunder Stadtteil Knieper West. In seiner Autobiografie «Nullerjahre», Anfang 2022 erschienen, beschreibt er eine Welt voller Wut und Angst, Hass und Drogenrausch, Gewalt und verzweifelter Suche nach Liebe. «Es war cool, ein harter Kerl zu sein», sagt er über die Zeit nach der Jahrtausendwende. Bolz entkommt dieser Welt schließlich nach Abschluss der Schule in Richtung Berlin.

Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin hat das Erfolgsbuch als Theaterstück auf die Bühne gebracht. Die Uraufführung wurde vom Publikum begeistert gefeiert. Regisseurin Nina Gühlstorff ist mit ihren Darstellern, in der Mehrzahl junge Studenten der Hochschule für Musik und Theater Rostock, ein dichter, intensiver, auch verstörender Theaterabend gelungen. Bolz wirkt gerührt, als er am Ende des gut eineinhalbstündigen Stücks auf die Bühne kommt und sich mit den Theaterleuten verbeugt. «Toll», sagt der 35-Jährige in der Gasse.

Die Handlung dreht sich um eine Gang harter und starker oder hart und stark sein wollender Heranwachsender, deren gesellschaftliches Umfeld nach der Wende – während ihrer Kindheit – in sich zusammengefallen ist. In den 1960er Jahren als Vorzeige-Viertel mit über 8000 Wohnungen für 25 000 Menschen errichtet, verliert der Stralsunder Stadtteil Knieper West – wie alle ostdeutschen Plattenbaugebiete – nach der Wende alle, die sich ein Haus bauen oder eine frisch sanierte Altbauwohnung in der Innenstadt leisten können: Ingenieure, Lehrer, Erzieher, Facharbeiter mit Job. Übrig bleiben die, die plötzlich ohne Perspektive sind – arbeitslos, mal ein Ein-Euro-Job, mal eine Fortbildung, Resignation, Alkohol. Es gibt keine intakte Wirtschaft, die sie aufnehmen könnte. Ihre Kinder wachsen in einer hoffnungslosen Umgebung auf.

Das Ergebnis wird auf der Bühne eineinhalb Stunden lang ausgebreitet: Wutausbrüche, Gewaltexzesse, Fäkalsprache der Heranwachsenden. Es geht ständig um Sex und Drogen und es packt den Zuschauer fast von der ersten Sekunde bis zur letzten. Rap-Gesänge treiben die Erzählung zusätzlich an – bis Hendrik nach ein paar Jahren vollkommen am Ende ist, zusammenbricht, von Panik-Attacken gepeinigt.

Hendrik Bolz findet aus dem Sumpf heraus, zieht nach der Schule nach Berlin. West-Berlin, wie betont wird. Er wendet sich der Rap-Musik zu, schreibt seine Erinnerungen auf, will weiterschreiben. Einigen seiner Kumpels ist der Ausbruch in ein besseres Leben auch gelungen und anderen nicht, wie in einem Rückblick aus dem Jahr 2023 erzählt wird. Sie sind noch immer voller Wut, haben sich extremen Parteien zugewandt oder sind verstummt.

Die M*Halle, in der «Nullerjahre» aufgeführt wird, ist eine 1975 errichtete und inzwischen stillgelegte Zeitungsdruckerei. Gleich dahinter beginnt das Schweriner Plattenbaugebiet Großer Dreesch. Ähnliche Schicksale haben sich dort abgespielt, spielen sich möglicherweise auch gerade jetzt ab. In sogenannten Großwohnsiedlungen im Westen Deutschlands, die zu sozialen Brennpunkten wurden, wird man solche Geschichten ebenfalls kennen.

Von Iris Leithold, dpa