Massenhafter, selbstgewählter Feuertod: Der neue Roman des in Indien geborenen britisch-amerikanischen Schriftstellers Salman Rushdie, «Victory City», beginnt mit einer Szene, die sich kaum aushalten lässt.
Alle weiblichen Mitglieder eines kleinen Königreichs im südlichen Indien des 14. Jahrhunderts gehen nach dem Tod ihrer Männer in einer verlorenen Schlacht ins Feuer. Einzig übrig bleibt die neunjährige Pampa Kampana, die sich entscheidet, ihrer Mutter nicht in die Flammen zu folgen. Die grausame Praxis der Witwenverbrennung und die Kritik an dem dahinter stehende Frauenbild einer konservativen hinduistischen Gesellschaft blitzen immer wieder auf in Rushdies Roman, der von Donnerstag (20. April) an in deutschen Buchhandlungen ausliegt.
Die Kraft der Fantasie
Rushdies Heldin vollzieht durch das traumatische Erlebnis eine Verwandlung, die sie zum Medium einer Göttin und zur Gründerin und Chronistin einer ganzen Zivilisation macht. Mithilfe ihrer göttlichen Gaben erschafft Pampa Kampana die Stadt Bisnaga (Victory City) und deren Menschen allein durch die Kraft ihrer Fantasie und begleitet Aufstieg und Fall der Metropole durch die Jahrhunderte dank einer außergewöhnlichen Langlebigkeit von 247 Jahren.
«Victory City» ist die Chronik eines fiktiven Reichs, das um diese Stadt herum entsteht. Der 75 Jahre alte Rushdie bleibt seinem Stil des magischen Realismus darin genauso treu wie dem Humor und einer schonungslosen Direktheit. Er webt eine dichte Erzählung voller Sex, Machtkämpfe und Verschwörungen, die an die großen Epen der Menschheit angelehnt ist. Doch Pathos ist ihm völlig fremd. Seine Figuren fluchen, zaudern und zweifeln.
Intelligenz und Dummheit bleiben konstant
Es ist ein modernes Epos, das einige der großen Fragen der Menschheit behandelt: Wer sind wir? Haben wir einen freien Willen? Warum müssen wir sterben? Nicht auf alles hat er eine konkrete Antwort parat. Für Rushdies Heldin Pampa Kampana wird das Erreichen eines biblischen Alters zum Fluch: Sie muss alle geliebten Menschen, auch die eigenen Kinder, nach und nach zu Grabe tragen. Zu ihren Einsichten aus einem sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Leben gehört, «dass menschliche Intelligenz und Dummheit, ja das Beste und das Schlechteste der menschlichen Natur in einer sich verändernden Welt, die großen Konstanten sind».
Inspirieren ließ sich Rushdie von der Geschichte des südindischen Hindu-Großreichs Vijayanagar mit der gleichnamigen Hauptstadt, deren Ruinen heute die Unesco-Kulturerbestätte Hampi bilden. Er hält sich dabei in vielen Details eng an die historische Vorlage. Doch sein Bisnaga scheint eine Metapher für viele Reiche und Nationen in der Menschheitsgeschichte zu sein – nicht zuletzt für die der Gegenwart.
Wenig verhohlen deutet Rushdie mit seiner Erzählung über die wundersame Erschaffung Bisnagas darauf hin, dass auch die Narrative, die heutige Nationen um ihre Entstehung gerankt haben, mal mehr und mal weniger der historischen Realität entsprechen. Er entlarvt sie als Zweckübung zur Bildung einer gemeinsamen Identität.
Neben Angriffen von außen wird das Reich von einem endlosen Machtkampf zwischen religiösen Eiferern und liberalen Kräften im Innern erschüttert, in dem mal die eine, mal die andere Seite die Oberhand gewinnt. Manchmal macht es den Eindruck, Rushdie spiele auf die politischen Verhältnisse in den USA an, wo er inzwischen lebt. Teils fühlt man sich an die Unterwerfung Indiens durch die britischen Kolonialherren erinnert, die in Form von rosa Affen versuchen, die Schätze eines verzauberten Waldes auszubeuten.
Auch die Folgen der Teilung der britischen Kolonie Indien in das muslimische Pakistan und das offiziell säkulare, aber immer stärker von radikalem Hinduismus geprägte Indien und die folgende Rivalität der beiden Staaten scheinen immer wieder anzuklingen.
«Ich hatte enormes Glück»
«Victory City» ist der erste Roman Rushdies, der seit dem Anschlag auf den Schriftsteller im vergangenen Jahr erscheint. Rushdie war während eines Vortrags in den USA mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt worden. Er ist seitdem auf einem Auge blind. «Ich hatte enormes Glück. Hätte mich der Angreifer an anderen Stellen des Körpers getroffen, meine Geschichte wäre beendet. Ich bin froh, dass er diese Stellen nicht getroffen hat. Und dann hat der Körper offenbar eine verblüffende Fähigkeit zu heilen», sagte er der «Zeit» kürzlich in einem Interview.
Dass er «Victory City» schon vor dem Attentat fertig gestellt hatte, bezeichnete er als «gutes Timing». Andernfalls, so sagte er, hätte es sein können, dass er aus dem Tritt geraten wäre. Der Angriff kam mehr als 30 Jahre nachdem der frühere Revolutionsführer im Iran, Ayatollah Chomeini, wegen Rushdies Roman «Die satanischen Verse» 1989 per Fatwa zur Ermordung des Autors aufgerufen hatte. Doch Rushdie wäre nicht Rushdie, nähme er das Attentat nicht zum Anlass für ein neues Buch, an dem er derzeit schreibt.
Salman Rushdie, Victory City, Erscheinungstermin 20. April, Penguin Verlag, 414 Seiten, 26 00 Euro, ISBN 978-3-328-60294-1