Mit ihrem komplexen Text über die Opferrolle eines Kindes hat Anna Felnhofer die Jury am zweiten Tag des Wettlesens bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur überzeugt. «Das ist außerordentlich subtil und gut gearbeitet», sagte etwa Juror Thomas Strässle im österreichischen Klagenfurt. Die österreichische Autorin und klinische Psychologin gehört somit zu dem vorläufigen Favoritenkreis für den Ingeborg-Bachmann-Preis und die anderen Auszeichnungen, die am Sonntag vergeben werden. Hoffnungen darf sich auch die aus Tübingen stammende Valeria Gordeev machen, die am Vortag für ihre präzise Beschreibung eines Putz-Neurotikers einhelliges Lob geerntet hatte.
Ansonsten dominierten schonungslose Texte über Mütter den vorletzten Lesetag des Wettbewerbs (3sat überträgt). Der deutsch-polnische Autor Martin Piekar bekam langen Publikumsapplaus für die literarische Hommage an seine trinkende und Selbstgespräche führende Mutter. Als «Requiem der anderen Art» lobte Jurorin Insa Wilke den Text.
Jacinta Nandi präsentierte danach ihre Erzählung über eine Mutter, die mit ihrem gefühlskalten Ehemann und dem Muttersein in Deutschland kämpft. Die aus England stammende und in Berlin lebende Autorin überzeugte unter anderem mit der Szene einer koksenden Mütterrunde und Sätzen wie «die Unterschicht gibt den Kindern verschimmeltes Brot und hofft, dass sie sterben, die Oberschicht gibt den Kindern Biobrot und hofft auch, dass sie sterben». Am Ende der kontrovers geführten Jury-Debatte zu ihrem Text forderte Nandi ein Kinderbetreuungsangebot für die Eltern unter den teilnehmenden Autorinnen und Autoren.
Die aus München stammende Kulturjournalistin und Autorin Sophie Klieeisen tauchte hingegen nicht in psychologische oder persönliche Tiefen ein. Sie verfremdete in ihrem Text die Eröffnung des Berliner Humboldt Forums, um einen düsteren Blick auf die deutsche Geschichte und Kulturszene zu werfen.