Nach nur wenigen Minuten stürmen Klimaaktivisten die Bühne und sprayen einen großen orangenen Klecks auf die Villa des reichen Jedermann. Sie gehören zur Inszenierung.
Wenig später verstören echte Aktivisten der «Letzten Generation» im Salzburger Festspielhaus die mehr als 2000 Premierengäste und rufen: «Wir alle sind die Letzte Generation», bevor sie nach draußen eskortiert werden. Plötzlich scheint der 1911 entstandene «Jedermann» von Hugo von Hofmannsthal, traditioneller Auftakt der Salzburger Festspiele seit mehr rund 100 Jahren, voller aktueller Brisanz.
Genau das wollte Regisseur Michael Sturminger in seiner bereits dritten Inszenierung des Stücks. Der Jedermann, der an seiner Geldgier erst zweifelt, als der Tod anklopft, passe als allgemeines Sinnbild: «Wir erleben mit ihm, was passiert, wenn wir erst zu denken und zu handeln beginnen, wenn es zu spät ist», so Sturminger.
Die Bühne im Festspielhaus – das Wetter ließ eine Aufführung auf dem Domplatz nicht zu – wird von der Marmorfassade der Villa des Superreichen dominiert. Davor ist nirgends ein heimeliger Platz zu finden, grau und öde ist die Fläche, auf der Jedermann seinem Schicksal in apokalyptischem Ambiente entgegentaumelt.
Wenig Begeisterung im Publikum
Der Beifall fiel zur Premiere eher freundlich als begeistert aus. Die Inszenierung hinterlässt nicht wie sonst oft wohlige Schauer beim Anblick eines voller Selbstzweifel sterbenden Mannes, sondern wirkt wie ein Hybrid aus neuer Weltanklage und alter Selbsterkenntnis. Die Knittelverse des Stücks reimen sich nicht immer auf das ambitionierte Vorhaben.
Sturminger wollte «zu viel auf einmal. Übrig bleibt am Ende wenig», so die «Salzburger Nachrichten». In der Titelrolle überzeugt der 59-jährige Burgschauspieler Michael Maertens. Der gebürtige Hamburger, der schon in vielen Rollen bei den Festspielen aufgetreten ist, gibt einen fügsamen Kapitalisten mit spätem Gewissen.
Vergleichsweise blass ist das Verhältnis zwischen Jedermann und Buhlschaft, die von der 36-jährigen Valerie Pachner verkörpert wird. Während die Inszenierung in den Vorjahren dem Duo Lars Eidinger und Verena Altenberger den großen Auftritt mit theatralischer Trennung gönnte, entschwindet die Buhlschaft diesmal aus dem Leben des Jedermann so ganz nebenbei.
Erstmals bei den Festspielen spielte die Buhlschaft zugleich den Tod. Pachner war in dieser Rolle ein eher sensibler, zahmer Sensenmann. Wie dem Zeitgeist geschuldet wirkt die berühmte Tischgesellschaft. Das als Picknick-Happening gestaltete Treffen ist dank seiner fast ausschließlich nicht-binären Gäste ein Fest der Diversität. Am Ende des Stücks liegt die ganze Szenerie unter einem schwarzen Schleier. Nicht nur der Jedermann ist tot, die Welt ist am Ende.
Weitere Stücke
Zu den Neuproduktionen dieser Saison zählt die Mozart-Oper «Le nozze di Figaro» in einer Inszenierung von Martin Kusej, in der die Frauen im Mittelpunkt stehen sollen. Als ein musikalischer Höhepunkt wird Verdis «Macbeth» mit der Starsopranistin Asmik Grigorian gehandelt.
Im Schauspiel wagt Regisseurin Karin Henkel eine Bühnenversion des mit einem Oscar und einer Goldenen Palme prämierten Films «Liebe» von Michael Haneke. Sie wolle keine kammerspielartige Darstellung, sondern setze mit einem großen Ensemble auf poetische Bilder, um Fragen nach einem selbstbestimmten Umgang mit Krankheit und Tod zu stellen, so die Festspiele im Vorfeld.
Der österreichische Nobelpreisträger Anton Zeilinger wird die diesjährigen Festspiele mit einer Festrede am 27. Juli feierlich eröffnen. Dabei will der auf Quantenphysik spezialisierte Wissenschaftler Fragen nach dem Wesen von Wahrheit und Wirklichkeit stellen.
Die Festspiele bieten unter dem Hamlet-Zitat «Die Zeit ist aus den Fugen« bis 31. August 179 Aufführungen in den Sparten Oper, Musik und Theater. Rund 212 000 Karten wurden aufgelegt. Das Gesamtbudget 2023 beträgt laut den Angaben des Festivals 67 Millionen Euro.