Mit ihrer äußerst präzisen Sprache und Erzählweise hat die deutsche Autorin Valeria Gordeev den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Die aus Tübingen stammende Schriftstellerin setzte sich am Sonntag mit einem der ruhigsten und handlungsärmsten Texte durch, die an den drei Tagen des Wettlesens im österreichischen Klagenfurt vorgestellt worden waren. Gordeev gewann mit einem Vorsprung von nur einem Jury-Punkt vor der Wiener Autorin Anna Felnhofer, die die Jury ebenfalls mit einem Psychogramm gefesselt hatte.
In der Geschichte «Er putzt» seziert Gordeev sprachlich die Sauberkeits-Neurose eines Mannes, stellt ihn jedoch nicht als klinischen Fall dar, sondern als hingebungsvollen Menschen, der sich um seine Mutter und seine Schwester sorgt. Als «Plädoyer für die Empfindlichkeit» lobte Jury-Vorsitzende Insa Wilke den Text am Sonntag. «Was wie ein Putzfimmel aussehen könnte, zeigt Valeria Gordeev in seiner existentiellen Dimension», fügte Wilke hinzu.
Die Autor selbst ist keine Reinlichkeits-Fanatikerin
Der Text ist Teil eines Romans, an dem Gordeev seit einigen Jahren arbeitet, verriet sie in einem Interview mit 3sat, nachdem sie den mit 25 000 Euro dotierten Hauptpreis bei den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur erhalten hatte. Sie selbst sei keine Reinlichkeits-Fanatikerin, stellte sie klar. «Ich fürchte, es geht bei mir eher ins Gegenteil», sagte sie.
Gordeevs Eltern wanderten Ende der 1970er Jahre aus der Sowjetunion aus, die Tochter wurde 1986 in Tübingen geboren. Die Autorin ist auch als Illustratorin und Liedtexterin tätig. Auszüge ihres geplanten Debütromans, in der sowjetische Geschichte und russische Gegenwart verwoben werden, erschienen bereits 2018 unter dem Titel «Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden Hülle».
Gordeev erhielt den mit 25 000 Euro dotierten Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt nach einer äußerst knappen Jury-Entscheidung. Während Gordeev 19 Punkte erhielt, vergaben die Jurorinnen und Juroren 18 Punkte an Felnhofer und ihren Text «Fische fangen». Darin schildert sie auf ähnlich präzise Weise wie Gordeev das Geschehen. Es geht um die Qualen eines Jungen, der an Gesichtserkennungsschwäche leidet, und der sowohl von seiner trinkenden Mutter als auch von seinen Mitschülern misshandelt wird. Die Autorin und klinische Psychologin Felnhofer wurde mit dem Deutschlandfunk-Preis (12 500 Euro) ausgezeichnet.
Gleich zwei Preise für Martin Piekar
Das Publikum konnte hingegen Martin Piekar am meisten überzeugen. Mit seiner so liebevollen wie erschütternden Hommage an seine verstorbene polnische Mutter gewann der aus Bad Soden am Taunus stammende Lyriker nicht nur den von der Jury vergebenen Kelag-Preis (10 000 Euro). Der emotionale und persönliche Text setzte sich auch in der Online-Abstimmung für den Publikumspreis (7000 Euro) durch. Laura Leupi aus Zürich erhielt den 3sat-Preis (7500 Euro) für eine schonungslose Text-Perfomance mit dem Titel «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt».
Bei dem Literaturwettstreit lasen 12 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz von Donnerstag bis Samstag ihre Texte vor. In der siebenköpfigen Jury saßen diesmal zwei neue Mitglieder: Die deutsche Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu Sanyal («Identitti») und der Schweizer Literaturwissenschaftler Thomas Strässle.