Chrissie Hynde ist eine Ikone als Rocksängerin, als Frontfrau der Pretenders und als Songwriterin. Doch eine Fähigkeit fehlt der 71-Jährigen nach eigener Einschätzung. «Ich bin nicht gerade eine Geschichtenerzählerin und ich denke mir nicht wirklich was aus», sagt Hynde. «Alles, was ich schreibe, kommt von persönlichen Erfahrungen. Ich wünschte, ich wäre eine Geschichtenerzählerin und könnte mir etwas ausdenken.» An Ideen mangelt es ihr trotzdem nicht, wie «Relentless» beweist, das zwölfte Studioalbum der Pretenders.
Die neue Platte beginnt mit «Losing My Sense Of Taste» recht schwermütig. Corona ist schuld. «Das ist natürlich eine Anspielung auf den ganzen Lockdown, wo viele Leute ihren Geschmackssinn und ihren Geruchssinn verloren haben», erzählt Hynde im Interview der Deutschen Presse-Agentur in London. Die britische Metropole ist seit Jahrzehnten die Wahlheimat der US-Amerikanerin aus Akron/Ohio.
Die neuen Songs hat die Sängerin zusammen mit Gitarrist James Walbourne geschrieben. Fast die gesamte erste Hälfte des Albums ist ruhig, melancholisch und fast nachdenklich. In «A Love» vergleicht Hynde Liebe mit Drogensucht. Im schleppenden «Merry Widow» singt sie mit Witz über das Alleinsein. Melodisch klingt der Song düster, inhaltlich ist er äußerst amüsant. «Das ist kein ernstes Lied», betont Hynde. «Wenn wir das live spielen, sehen James und ich uns an und fangen an zu lachen, weil es so albern ist.»
Kaum aufgenommen, schon fast vergessen
Über die neuen Songs möchte die Pretenders-Chefin, die durchaus unbequem sein kann, überraschenderweise am liebsten gar nicht sprechen. «Dafür müsste ich mir das Album erst wieder anhören, ich hab das seit Monaten nicht gehört», sagt sie, entschuldigt sich und wirkt dabei etwas peinlich berührt. «Seit wir das aufgenommen haben, habe ich einige andere Projekte gemacht, das fällt mir also schwer. Ich kann mein eigenes Zeug nicht analysieren.»
Lieber plaudert die Musikerin über andere Dinge. Sie erzählt, dass ihr das Altern überhaupt nichts ausmache, ganz im Gegenteil. «Ich genieße das. Mir macht es Spaß älter zu werden und auf Jahrzehnte der Erfahrungen zurückblicken zu können», sagt sie. «Man beginnt, die Dinge besser zu verstehen, all die Dinge, die man durchgemacht hat, als man jung und wild war. Man begreift, dass man manche Dinge ändern kann und andere nicht. Ich finde, mit dem Alter wird man sehr viel entspannter.»
Ihre Stimme hat sich in den 44 Jahren seit dem Debütalbum «The Pretenders» mit Kultsongs wie «Kid» und «Brass In Pocket» erstaunlicherweise kaum verändert, obwohl Hynde erst mit über 60 Jahren zu rauchen aufhörte. «Das Rauchen nimmt deiner Stimme die Höhen», sagt sie. «Ich hatte nie Stimmtraining. Ich mache keine Aufwärmübungen. Ich denke über sowas gar nicht nach. Ich glaube, vieles ist psychologisch. Ich weiß nicht, wie es bei Opernsängerinnen ist. Ich kenne mich nicht mit anderen Bereichen des Singens oder anderen Musikrichtungen aus, aber im Rock’n’Roll? Ach komm …»
In vielen Stilrichtungen unterwegs
Mit den Pretenders vollbrachte Hynde in den vergangenen Jahrzehnten das Kunststück, Musikfans verschiedener Stilrichtungen anzusprechen, ob Pop, Punk, New Wave oder Rock. Gerade ist die Band im Vorprogramm der Hardrocker Guns N‘ Roses auf US-Tournee und bespielt dort die großen Stadien, bevor es Ende September zurück nach Europa geht. Dort spielen The Pretenders auf dem Hamburger Reeperbahn-Festival und im Columbia Theater Berlin, wo sie sicher einige Lieder von «Relentless» vorstellen werden.
Auf dem Album ändert sich mit dem siebten der zwölf Songs die Stimmung. Als wäre der Name Programm, wird es mit «Let The Sun Come In» etwas heiterer. Mit seinen gefälligen Gitarrenklängen ist es eine typische Pretenders-Nummer in der Tradition von «Kid» oder «Back On The Chain Gang». «Vainglorious» ist ein weiterer cooler Song mit etwas mehr Dampf. «Als wir angefangen haben, war es ein sehr viel langsameres, ruhiges Album», sagt Hynde, «und schließlich wurde es mehr Rock’n’Roll. Ich schätze, das ist bei uns unvermeidbar.»
Doch auch in der zweiten Hälfte – früher hätte man von der B-Seite gesprochen – überwiegen sanftere oder langsamere Songs wie das wunderschöne «Look Away» mit Folk-Anleihen oder die Ballade «Just Let It Go». Den Abschluss macht die traurige Ballade «I Think About You Daily» ohne Bandbegleitung. Radiohead-Mitglied und Filmkomponist Jonny Greenwood orchestrierte die atmosphärische Streicher-Begleitung dafür. Es ist ein ergreifender Schlussakt für ein insgesamt melancholisches Spätwerk der Pretenders.