«Ich habe die Stimme nicht mehr. Ich vermisse sie.» Diese Stimme hat ihr Leben geprägt, über Jahrzehnte hinweg ihren Erfolg gesichert, wohl auch ein Stück Protestgeschichte geschrieben. Im Alter von inzwischen 82 Jahren lässt Joan Baez wichtige Stationen Revue passieren. Es ist kein ungetrübter Blick zurück, viele Schatten drängen sich da zwischen dem Scheinwerferlicht. Der Dokumentarfilm «Joan Baez – I Am A Noise» zeigt die US-Sängerin weniger als Star, vielmehr steht der Mensch im Mittelpunkt. Vom 28. Dezember an ist er in deutschen Kinos zu sehen.
Dem Film ist ein Zitat des kolumbianischen Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez (1927-2014) vorangestellt, auf das sich auch Baez bezieht: «Jeder hat drei Leben. Das öffentliche, das private und das geheime…». In jeden dieser Bereiche lässt der Film Blicke zu. Nicht alles davon ist schön, manches bleibt im Dunkeln, wird nur angedeutet. Das Gesicht der erzählenden Baez scheint in einigen Szenen ihr Zögern, Fragen, Entscheiden widerzuspiegeln, was sie wie erzählen will. Und was nicht.
Eine schonungslose Bilanz
Für «Joan Baez – I Am A Noise» haben die drei Regisseurinnen Miri Navasky, Karen O’Connor und Maeve O’Boyle die Abschiedstour der Sängerin im Jahr 2018 zur Rahmenhandlung gemacht. Der fast zweistündige Film geht dabei deutlich über eine Konzert-Doku nach 60 Jahren auf der Bühne hinaus. In Interviews lassen vor allem Baez sowie ihre Schwestern Mimi und Pauline tief blicken in die auf Fotos und in Super-8-Filmchen oberflächlich glücklich wirkenden und doch sehr komplizierten Familienstrukturen.
Der Film wird so zu einer oft schonungslosen Bilanz von Karriere und Privatleben, Therapien und Drogen, ständigen Selbstzweifeln, einer gespaltenen Persönlichkeit, Depressionen. Auch die wichtigsten Beziehungen spielen eine Rolle. Etwa zum noch sehr jungen Bob Dylan, dem die frühe Popularität von Baez auch als Vehikel der eigenen Karriere diente.
Ihre Stimme ist immer noch beeindruckend
Baez tanzt barfuß durch Paris, marschiert mit Martin Luther King, singt hier, protestiert dort. Das Altern macht ihr auf ihrem langen und erfolgreichen Weg mehr zu schaffen, als sie selbst dachte. Etwa das Ding mit der Stimme. Sie trainiert daran mit einer Gesangslehrerin. Diese so prägnante Baez-Stimme klingt dabei noch immer beeindruckend. Es sind nur die Stimmmuskeln, die Klarheit und Höhen nicht mehr so mühelos schaffen wie früher.
Grundlage für viele Geschichten und Erinnerungen (Baez: «Wir erinnern uns an das, was wir wollen») war ein umfassendes Depot, in dem die Eltern Fotos, Zeichnungen, Videos, Tonaufnahmen der Familie aufbewahrten. Baez kannte das Depot nach eigenen Angaben nicht, war dort bis zum Film nie gewesen: «Ich hatte keine Idee davon.»
Die Premiere ihres Filmes während der jüngsten Berlinale ließ sich Baez im Februar nicht entgehen. Nach dem Screening stellt sie sich dem begeistert klatschenden Publikum. Dabei überlegt sie kurz, was ohne Musik und die berühmte Stimme aus ihr geworden wäre. «Ich weiß nicht, wie sich mein Leben entwickelt hätte, wenn ich nicht so früh gesungen hätte. Ich bin zufrieden», sagt Baez – und verabschiedet sich mit einer kurzen Gesangseinlage.
«Joan Baez – I Am A Noise», USA 2023, 113 Minuten, FSK ab 12, von Miri Navasky, Maeve O’Boyle, Karen O’Connor, mit Joan Baez, Bob Dylan