Wer Krimis mit Knalleffekten sucht, ist bei Autorin Donna Leon und ihrem Commissario Guido Brunetti aus Venedig schon immer an der falschen Adresse gewesen.
Leon (79) schaut lieber in die Seele der Menschen, um Abgründe aufzudecken. Im 31. Fall der Brunetti-Reihe ist es der Commissario persönlich, der einen Seelensstriptease hinlegt. «Milde Gaben» kommt am 25. Mai heraus.
So grüblerisch und wehmütig ist Brunetti selten dahergekommen. («Er verweilte auf dem Campo, voller Sehnsucht, die Dinge noch einmal zu sehen wie beim ersten Mal.») Er sinniert viel, Leon startet fast in Zeitlupe, mit langen Beschreibungen der kleinsten Gesten. So dauert es eine Weile, bis überhaupt ein mögliches Verbrechen in Sicht kommt. «Brunetti ist nachdenklicher geworden, weniger optimistisch», sagt die Amerikanerin mit Schweizer Pass der Deutschen Presse-Agentur. «Er ist ein bisschen unzufriedener mit der Welt, die er vorfindet.»
Die Pandemie ist der Elefant im Raum
Und noch etwas ist anders: Leon hat es ja immer vermieden, auf politische oder sonstige Gegenwartsereignisse Bezug zu nehmen, damit die Krimi-Reihe möglichst zeitlos bleibt. Die Pandemie habe das unmöglich gemacht, sagt sie. «Das ist wie ein Elefant im Raum. Da kann man nicht einfach drumherum gehen und erwarten, dass die Menschen einem folgen.» So tauchen in Brunettis Venedig dieses Mal Masken auf, verlassene Geschäfte, und neue Verhaltensweisen, die Leon gewohnt sarkastisch kommentiert. Etwa, als eine Frau redet, «ohne sich mit den albernen Angewohnheiten aufzuhalten, die Erwachsene jetzt anstelle von Händeschütteln und Wangenküssen vollführten.»
Worum geht es in «Milde Gaben»? Als kleiner Junge lebte Brunetti mit Bruder und Eltern mal in der Wohnung einer gütigen Vermietern. Sie half der bitterarmen Brunetti-Familie dezent mit selbstgekochten Mahlzeiten aus und Klein-Guido freute sich, wenn er deshalb abends nicht hungrig ins Bett gehen musste. Nun taucht die Tochter der Vermieterin auf. Sie bittet den Kommissar, herauszufinden, ob ihr Schwiegersohn in krumme Sachen verwickelt ist. Dass Brunetti ohne wirkliche Straftat überhaupt beginnt sich umzuhören, hat mit seiner tiefen Dankbarkeit der einstigen Vermieterin gegenüber zu tun.
Erinnerungen an Brunettis arme Kindheit ziehen sich durch das Buch, ebenso wie der Kontrast zur steinreichen und einflussreichen Familie seiner Frau Paola («Seit den ersten Tagen mit Paola, als er noch ein Straßenköter war, der hechelnd an Paolas Fersen hing, hatte Brunetti die Eleganz im Verhalten ihrer Familie bewundert.»).
Das Alter schärft die Erinnerungen
Warum kommen diese Erinnerungen nach so vielen Jahren hoch? «Ich weiß es nicht», sagt Leon, die Brunetti gerne wie eine reale Figur mit Eigenleben darstellt, nicht als Produkt ihrer Fantasie. «Ich schreibe nie mit einem Konzept. Ich weiß, wenn ich beginne, selbst nicht, wie die Geschichte ausgeht.» Womöglich hätten die Erinnerungen mit dem Älterwerden zu tun – eine Erfahrung, die Leon und Brunetti teilen. «Wenn man älter wird, schärft sich die Erinnerung manchmal, dann tauchen Szenen auf, die man vergessen hatte, vielleicht ist es das.»
Brunetti deckt jedenfalls wieder tiefe Abgründe auf: vermeintlich edle Spender, die sich bereichern, Freunde, die Freunde verraten, eine Person, die aus Selbstsucht und gekränktem Stolz Verwandte ans Messer liefern will. Die elegante Prosa, die literarischen Einwürfe – dieses Mal griechische Klassik – da bleibt Donna Leon sich treu, auch wenn sie weniger Kulinarisches kredenzt als sonst.
Die Kultserie geht weiter, jedes Jahr im Frühling ein neues Werk. Der 32. Fall für 2023 ist weit gediehen, sagt Leon. Die Autorin, die im September 80 wird, fasst auch den 2024-er Fall schon ins Auge. Sie ist topfit. Älter werden andere im Buch. Darüber ätzt Leon mit gewohnt scharfem Humor. Da lechzt ein Mann «in einem Alter, wo die Arbeit aufhört und alles zu verfallen beginnt: Familie, Zähne, Freundschaften, Augen, Knie – nach dem Elixier ewiger Jugend, was nur ein Euphemismus war für Sex mit einer viel jüngeren Frau.»
Donna Leon, Milde Gaben, Commissario Brunettis einunddreißigster Fall, Hardcover Leinen, 352 Seiten, ISBN 978-3-257-07190-0, 25 Euro