Der Antisemitismus-Skandal bei der documenta hat Konsequenzen: Die Generaldirektorin der Ausstellung, Sabine Schormann, legt ihr Amt nieder. Die Ausstellung soll grundlegend reformiert werden. Dabei sollen externe Experten helfen, wie Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung am Wochenende beschlossen.
Bereits vor Beginn der documenta fifteen waren Antisemitismus-Vorwürfe gegen das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa laut geworden, das die 100-Tage-Ausstellung kuratiert hatte. Kurz nach der Eröffnung der Schau, die neben der Biennale in Venedig als wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst gilt, wurde eine Arbeit mit antisemitischer Bildsprache entdeckt: Das Banner «People’s Justice» des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi wurde erst verhüllt und dann abgehängt.
Ampel-Politiker begrüßen Abberufung
Bundestagsabgeordnete von SPD, Grünen und FDP haben den Rückzug Schormanns begrüßt. Der kulturpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Helge Lindh, bezeichnete in der «Welt am Sonntag» die Auflösung ihres Dienstvertrages als «überfälligen Befreiungsschlag aus einem Teufelskreis von Missmanagement und Misskommunikation».
Linda Teuteberg, innerhalb der FDP-Bundestagsfraktion zuständig für jüdisches Leben, hält die Abberufung für überfällig. «Der Antisemitismus-Skandal der Documenta ist einer mit Ansage und weist über die Kunstschau hinaus: Israelbezogener Antisemitismus ist wie jede Erscheinungsform des Antisemitismus inakzeptabel, Verharmlosungen unter Verweis auf den „globalen Süden“ ebenso», sagte sie der Zeitung.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger forderte: «Nun muss es zur Prüfung der Kunstwerke kommen.» Erhard Grundl, kulturpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, sagte: «Frau Schormann gibt den Weg frei, endlich konstruktiv die Debatte darüber führen zu können, wie es zur Ausstellung antisemitischer Bilder auf der Documenta fifteen kommen konnte. Diese Debatte ist überfällig und sie ist entscheidend, gerade weil wir die Documenta als eine der wichtigsten Kunstausstellungen der Welt erhalten müssen.»
Bereits zuvor hatte Kulturstaatsministerin Claudia Roth die Entscheidung des Aufsichtsrats begrüßt, sich von Schormann zu trennen. «Es ist richtig und notwendig, dass nun die Aufarbeitung erfolgen kann, wie es zur Ausstellung antisemitischer Bildsprache kommen konnte, sowie die nötigen Konsequenzen für die Kunstausstellung zu ziehen», sagte sie der «Frankfurter Rundschau».
Aufsichtsrat über «klare Grenzüberschreitung»
Der Aufsichtsrat äußerte am Samstag «tiefe Betroffenheit» über die Vorgänge: Das Werk habe «eindeutig antisemitische Motive» enthalten. Die Präsentation des Banners am Eröffnungswochenende «war eine klare Grenzüberschreitung», der documenta sei damit «erheblicher Schaden zugefügt» worden. «Es ist nach Auffassung des Aufsichtsrates essenziell, diesen Vorfall zeitnah aufzuklären, Schlussfolgerungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse für den Umgang mit antisemitischen Vorgängen im Kultur- und Kunstkontext zu ziehen und weiteren Schaden für die documenta abzuwenden.» Es sei viel Vertrauen verloren gegangen. Dies müsse man nun zurückgewinnen.
Dabei soll nun auch «eine fachwissenschaftliche Begleitung» helfen. Dem Team sollen Wissenschaftler angehören, deren Fachgebiete Antisemitismus, Postkolonialismus und Kunst sind. Sie soll sich zum einen «Abläufe, Strukturen und Rezeptionen» der documenta fifteen ansehen und Empfehlungen für die Aufarbeitung geben. Zum anderen sollen sie auch schauen, ob weitere antisemitische Elemente auf der documenta zu sehen sind.
Kulturstaatsministerin begrüßt die Trennung
«Eine Kooperation der fachwissenschaftlichen Begleitung mit der künstlerischen Leitung betrachtet der Aufsichtsrat als zielführend», hieß es in der Mitteilung. Schormann hatte sich vergangene Woche schriftlich zu diesem Vorschlag geäußert. Bei Künstlern und Kuratoren gebe es «eine deutliche Abwehrhaltung gegenüber Eingriffen in die Kunst». Sie hätten «Zensur befürchtet und deswegen ein externes Expert*innengremium abgelehnt», schrieb Schormann.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth begrüßte die Trennung von Schormann. Der «Frankfurter Rundschau» sagte die Grünen-Politikerin am Samstag: «Es ist richtig und notwendig, dass nun die Aufarbeitung erfolgen kann, wie es zur Ausstellung antisemitischer Bildsprache kommen konnte, sowie die nötigen Konsequenzen für die Kunstausstellung zu ziehen.» Roth erklärte sich bereit, den Prozess zur Neuaufstellung «dieses so wichtigen Fixpunktes für die zeitgenössische Kunst weltweit» zu unterstützen.
Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, nannte den Rücktritt Schormanns «überfällig». Der «Bild am Sonntag» sagte er: «Antisemitismus darf in keiner Form im Kulturleben akzeptiert werden, gleichgültig woher die Kulturschaffenden kommen.» Der Beschluss des Bundestages gegen die anti-israelische Boykottbewegung BDS solle künftig die verbindliche Richtschnur bei der Verwendung öffentlicher Gelder bei der Kulturförderung sein.
Kritik vom American Jewish Committee
Das American Jewish Committee kritisierte den Aufsichtsrat, der das Problem immer noch nicht begriffen habe, wenn er von Antisemitismusvorwürfen spreche. «Es geht hier seit Wochen schließlich nicht um „Vorwürfe“, sondern um den Skandal, dass im Zuge der Documenta antisemitische Karikaturen im Stürmer-Stil ausgestellt worden sind», sagte Direktor Remko Leemhuis der «Bild»-Zeitung. Die Aufklärung des Skandals stehe erst am Anfang.
Im Aufsichtsrat der documenta sind die Stadt Kassel und das Land Hessen vertreten. An der Spitze stehen Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) als Aufsichtsratsvorsitzender und Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) als seine Stellvertreterin. Dem Aufsichtsrat gehören aktuell zehn Personen an. Der Bund ist nicht vertreten.
In den vergangenen Wochen waren die Rücktrittsforderungen gegen Schormann immer lauter geworden. Der 60-Jährigen wurde unter anderem Untätigkeit bei der Aufarbeitung des Skandals vorgeworfen. Zuletzt hatte sich der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, aus Protest als Berater der documenta zurückgezogen. Hito Steyerl, eine der international wichtigsten Künstlerinnen der documenta fifteen, zog aus Protest ihre Werke zurück.
Nun sei ein Neustart der documenta möglich, meinte Mendel. «Es wird aber keine leichte Aufgabe sein, den entstanden Schaden zu beheben», sagte er der dpa. «Jetzt passiert hoffentlich, was schon längst überfällig war: Alle Beteiligte an einem Tisch zu bringen und konstruktiv die Geschehnisse aufzuarbeiten und Umgang mit den Kunstwerken in der Kritik zu finden. Das ist vielleicht die letzte Chance, die nicht verspielt werden darf.»
Einvernehmliche Auflösung des Dienstvertrags
Auf die Auflösung des Geschäftsführer-Dienstvertrags habe man sich einvernehmlich verständigt, berichtete die documenta am Samstag. Schormann, eine in Bad Homburg geborene Kulturmanagerin, hatte das Amt seit 2018 inne. Im Jahr zuvor war die documenta wegen eines Millionendefizits bei der 14. Ausgabe im Jahr 2017 in die Schlagzeilen geraten. Die damalige Geschäftsführerin Annette Kulenkampf hatte daraufhin ihr Amt niedergelegt. Übergangsweise hatte zunächst der Musikmanager Wolfgang Orthmayr die Geschäfte geführt. Nun soll erneut eine Interimslösung gefunden werden.
Nach dem Skandal wird sich den aktuellen Beschlüssen zufolge die documenta auch dauerhaft verändern. Die Gesellschafterversammlung beschloss «eine Organisationsuntersuchung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH durchzuführen, die sowohl die Strukturen inklusive Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten als auch die Abläufe einer Überprüfung unterzieht».
«Die Stadt Kassel und das Land Hessen eint das gemeinsame Ziel, die Verfehlungen beim Thema Antisemitismus und strukturellen Defizite aufzuarbeiten und alles daran zu setzen, der documenta auch in Zukunft ihren weltweit einzigartigen Rang als Ausstellung für zeitgenössische Kunst zu sichern.» Man arbeite gemeinsam mit allen Beteiligten daran, «die documenta in Kassel zu schützen».