Künstliche Intelligenz hält Einzug in die Opernwelt
«Chasing Waterfalls»: Die Semperoper wird zur Bühne für ein Werk, bei dem Künstliche Intelligenz eine große Rolle spielt und eine Szene sogar in «eigener Regie» gestaltet. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Daniel Koch/Semperoper Dresden/dpa)

Wenn am Samstag (3.9.) die Semperoper Dresden den Premierenreigen der neuen Spielzeit eröffnet, ist ein Hauptdarsteller praktisch nicht von dieser Welt. Optisch wird er als acht Meter hohe kinetische Lichtskulptur mit LED-Panels auf der Bühne glänzen, für sein Agieren aber wird eine Künstliche Intelligenz (KI) zuständig sein.

Das Musiktheater «Chasing Waterfalls» ist laut Sächsischer Staatsoper weltweit die erste Oper, in der eine KI phasenweise Komposition, Libretto und Interpretation autark und live kreiert. In einer von sieben Szenen hat die KI allein das Sagen, in den anderen wird sie mit realen Darstellern als Digital Twins interagieren.

Den Regisseur und Medienkünstler Sven Sören Beyer fasziniert das Zusammenspiel von Mensch und Maschine. «Tanzende Lichtpunkte am Himmel etwa berühren uns emotional – egal, ob sie technisch erzeugt werden oder ob es sich um Sternschnuppen handelt. Diese Mechanismen versuchen wir künstlerisch zu ergründen: Wann wird Technologie emotional, wie kann man Menschen durch den Einsatz von Technik berühren.»

Beyer versteht «Chasing Waterfalls» als kritischen Beitrag zur ethischen Debatte, was der Mensch in Zukunft selbst entscheidet und was er künstlichen Prozessen überlässt. Schon heute durchleuchte KI Nutzer im Netz und schicke ihnen speziell auf sie zugeschnittene Werbung. «Die digitale Welt beeinflusst längst reale Entscheidungen.» Auf der anderen Seite sieht Beyer eine große kreative Chance, mit KI Neues zu schaffen.

Das gilt nicht zuletzt für den Opernbetrieb. «Es ist spannend, diesen Schritt zu machen und nicht mehr alles in der Hand zu haben», sagt er und verweist auf die Szene, in der die Künstliche Intelligenz ihre eigene Arie schreibt, komponiert und singt. Die norwegische Sopranistin Eir Inderhaug ging zwei Wochen in ein Tonstudio, um die KI hierfür stimmlich auszurüsten. Inhaltlich erhält die KI eine Handlungsanweisung, die sie selbst ausgestaltet: «Schreibe eine Opernarie, in der du dich selbst reflektierst. Du darfst dabei durchaus zynisch und humorvoll sein.»

KI als kreativer Partner

Die Librettistin Christiane Neudecker, die ebenfalls mit KI-Textgeneratoren experimentierte, war anfangs reserviert. Doch im Laufe der Zeit hat sie die KI als kreativen Partner akzeptiert. «Der Austausch war überraschend inspirierend, auch auf poetischer und inhaltlicher Ebene», so Neudecker. Die spezifische Textpassage wird allerdings schon kurz vor der Aufführung erstellt. Beyer muss aus Sicherheitsgründen jeden Text, den die KI schreibt, absegnen.

«Bei dieser einen Szene werden wir überrascht. Da kommt es jetzt zu Inhalten, die wir vorher nicht kennen. Das ist das Experiment», sagt Beyer. Das gelte aber nicht für die ganze Oper. «Uns ist wichtig, einen Handlungsstrang zu haben. Das menschliche Ich gerät in der Vielfalt seiner digitalen Projektionsflächen und Selbstdarstellungen in eine Identitätskrise und muss sich neu verorten.»

Die Sopranistin Eir Inderhaug wird als sie selbst und als digitaler Zwilling zu erleben sein. Die etwa 70-minütige Aufführung ist für sechs Gesangssolisten, eine virtuelle Stimme und ein Kammerorchester konzipiert. Als Co-Komponist und Dirigent steht der Hongkonger Künstler Angus Lee am Pult der Sächsischen Staatskapelle. Im November soll das Werk beim New Vision Arts Festivals in Hongkong zur erleben sein.

Von Jörg Schurig, dpa