Eigentlich herrscht in Rio de Janeiro das ganze Jahr über Karneval. Kaum sind die Umzüge zu Ende, beschäftigen sich die Sambaschulen in der brasilianischen Metropole schon wieder mit dem nächsten Thema, der nächsten Leitmusik, den nächsten Wagen und Kostümen, die sie in das Sambodrom bringen wollen.
Jetzt im Januar würden die Schulen für gewöhnlich zu öffentlichen Proben an ihren Stammsitzen einladen, die Tänzer unter Hochdruck trainieren. Die «Cidade do Samba» in Rios Hafengegend würde einem Bienenstock gleichen. «Das müsste hier rundgehen», sagt Phelipe Lemos von der Sambaschule «Unidos da Tijuca» und schaut sich in der Produktionsstätte des Karnevals um.
Es ist leer und still. Nur die Figuren aus dem vergangenen Jahr stehen an diesem Montagnachmittag vor der Halle der Sambaschule. Phelipe, der Zeremonienmeister, und Denadir Garcia, die Fahnenträgerin der Schule, sind an diesem Nachmittag zu Besuch. «Es geht nicht, dass wir ohne das hier leben», sagt Phelipe.
Rio hat wegen Corona den Karneval im Sambodrom, der im Februar stattfinden sollte, verschoben, den Straßenkarneval abgesagt. Ein neuer Termin hängt laut dem Verband der Sambaschulen (LIESA) davon ab, wann es eine Impfkampagne geben wird. Der Verband hofft auf einen Karneval im Juli und hat kurz vor Jahresende schon einmal bekannt gegeben, um was es bei den einzelnen Umzügen gehen soll. Aber wann die Impfungen starten, ist offen: Nachdem Präsident Jair Bolsonaro erst das Coronavirus geleugnet hat, ist er nun gegen die Impfung.
Brasilien ist einer der Brennpunkte der Pandemie. Mehr als 7,7 Millionen Menschen haben sich mit dem Coronavirus infiziert, fast 196 000 Patienten sind im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Rio de Janeiro ist mit mehr als 435 600 Fällen und 25 600 Toten einer der am meisten betroffenen Bundesstaaten. Die Belegungsquote der Intensivbetten für Covid-19-Patienten nahm zuletzt wieder zu.
Corona hat Rio de Janeiro mitten ins Herz getroffen. Das Virus hat der Stadt das Leben in den Straßen genommen, die Treffen auf Plätzen und in Bars, die fast immer von Musik begleitet waren. Der Samba ist die Seele der Millionenmetropole. Er hat gefehlt in den vergangenen Monaten – erst seit kurzem sind die Sambaschulen wieder geöffnet. Zum ersten Mal seit 1912 findet der Karneval nicht wie geplant statt.
Dabei ist der Karneval die jährliche Katharsis eines Volkes, bei der sich der Druck wie aus einem Dampfkochtopf befreit. Fast alles ist erlaubt – das Tanzen, das Flirten und noch mehr. Er hilft bei der Flucht in eine andere, nach der Theorie des brasilianischen Anthropologen Roberto da Matta umgekehrte Welt: Autofahrer halten an, wenn Sambagruppen vorbeiziehen. Männer verkleiden sich als Frauen. Weiße jubeln Schwarzen zu.
Doch in diesem Jahr ist die «Cidade do Samba» eine Geisterstadt. «Weil der Karneval nicht nur vier Tage dauert, sondern für die, die damit arbeiten, ein Jahr, ist das auch wirtschaftlich sehr schlecht», sagt der Journalist Philipe Alves vom Karnevalsportal «Carnavalesco». «Eine Reihe von Leuten leiden darunter.» Von der Kostümnäherin über den Figurenbildner bis zur Königin einer Sambaschule.
«Das Traurigste ist, all die Leute arbeitslos zu sehen», sagt Elias Riche, Präsident der Sambaschule Mangueira. Für eine Besprechung mit anderen Präsidenten ist er in der «Cidade do Samba». Versonnen schaut er aus dem ersten Stock der Lagerhalle hinunter auf die Figuren, etwa den schwarzen Jesus, mit dem die Mangueira noch im vergangenen Februar für Aufsehen sorgte. Im Juli stellte die Sambaschule die Zahlungen an Hunderte Angestellte und Mitarbeiter ein.
Wie der Mangueira geht es vielen anderen Schulen. Hinzu kommen Tausende Beschäftigte aus der Hotellerie- und Gastronomiebranche. Als afro-brasilianische Musik war der Samba zunächst verpönt. Doch längst hat sich der Karneval zu einem gesellschaftlichen Ereignis und einer Touristenattraktion entwickelt. Januar in Brasilien ist wie August in Deutschland Ferienzeit, von Mitte Dezember bis nach dem Karneval ist in Rio Hochsaison. Mehr als zwei Millionen Touristen kamen allein zum Karneval im vergangenen Jahr.
Nach einem Bericht des Portals «Carnavalesco» bringt das Spektakel der Stadt Einnahmen von umgerechnet rund 620 Millionen Euro. Ohne Silvesterparty an der Copacabana und ohne Karneval bleiben die Besucher aus. «Es ist kompliziert», sagt Denadir Garcia. Eigentlich fiebert sie nach dem Wechsel von einer anderen Sambaschule ihrer Premiere als Fahnenträgerin der «Unidos da Tijuca» entgegen. Während Phelipe Lemos sich vorerst als Fahrer durgeschlagen hat, bis ihn ein Unfall stoppte, betreibt Denadir ein natürliches Bräunungsstudio, wie es in den Favelas Trend geworden ist.
Dabei kleben sich die Frauen dünne Streifen auf die Haut und legen sich in die Sonne, um einen perfekten Bikiniabdruck zu bekommen. Das Lechzen nach Sonne und Bräunung ist in Rio heilig. In der Pandemie sind aus Angst vor Menschenansammlungen allerdings selbst Denadirs Kundinnen weggeblieben. Sie stellte unter anderem auf Hausbesuche um. Und sagt: «Ich erfinde mich wie viele Brasilianer jeden Tag neu».