Die US-amerikanische Filmemacherin Laura Poitras hat ein offenes Ohr für abweichende Stimmen. Bekannt wurde sie für einen Dokumentarfilm über den Whistleblower Edward Snowden («Citizenfour»), der einen Oscar gewann. Für ihr neues Werk «All the Beauty and the Bloodshed» hat sie Gespräche mit Nan Goldin geführt, jener Fotografin, deren anarchische Fotos über Außenseiter in der New Yorker Kunstlandschaft erst für Schrecken, dann für Begeisterung sorgten.
Damit hat Poitras mit dem einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb den Goldenen Löwen des Filmfests Venedig gewonnen. Zum dritten Mal in Folge ging der Hauptpreis am Samstagabend an eine Filmemacherin – was seit 1949 nur äußerst selten, nämlich insgesamt sieben Mal vorgekommen war.
Julianne Moore blickt mit Zuversicht nach vorn
Auch den Großen Preis der Jury bekam dieses Mal eine Regisseurin. Sind Filmemacherinnen inzwischen also gleichberechtigt? «Sie müssen nur auf die Beweise von heute Abend schauen», sagte Jury-Präsidentin Julianne Moore nach der Preisverleihung. «Da sehen Sie so viele Geschichten aus der Regie von Frauen. Geschichten über Frauen werden zelebriert. Ich denke: Ja – da gibt es definitiv einen Wandel. Ich glaube, da können wir jetzt einen Deckel draufmachen und nach vorne blicken, und nicht immer alles geschlechtsspezifisch deuten. Und einfach erwarten, dass wir alle Möglichkeiten haben sollten, unsere Geschichten zu erzählen.»
Die Entscheidung für «All the Beauty and the Bloodshed» sei eindeutig gewesen, sagte Moore. Jury-Mitglied Isabel Coixet formulierte es so: «Es war der Film, auf den wir gewartet hatten.» Poitras erzählt darin von Goldins Kampf gegen die Familie Sackler, den Eigentümern eines Pharma-Unternehmens, das mit für die Opioid-Krise in den USA verantwortlich gemacht wird. Goldin selbst war zwischenzeitlich nach einem von der Firma vertriebenen Schmerzmittel süchtig.
Gleichzeitig blickt der Film auf Goldins Leben. Erzählt davon, wie ihre ältere Schwester Suizid beging und Goldin selbst im Alter von 14 Jahren ihr konservatives Elternhaus in Boston verließ. Drag Queens und andere Außenseiter wurden zu ihrer Ersatzfamilie. «Überleben war eine Kunst», sagt Goldin im Film einmal. «Du konntest dafür verhaftet werden, in Boston über die Straße zu laufen.»
Poitras hat Goldin für «All the Beauty and the Bloodshed» viele Male interviewt. Goldins Erzählungen führen als Voice-Over durch den Film, dazu werden Videos und Fotos aus dem Leben der 1953 geborenen Künstlerin gezeigt. Goldin thematisiere in ihren Fotos ihre Beziehungen zu ihren Freunden, und das mache ihre Bilder so verführerisch, sagt Poitras im Film.
Egal, ob es um ihren Aktivismus, ihre Kunst oder ihr Leben geht: Alles, sagte die Fotografin in Venedig, sei eigentlich einer Sache gewidmet – dem Kampf gegen Stigmatisierung. Seien es Drogensucht, häusliche Gewalt, nicht-heterosexuelle Geschlechtsidentitäten oder Krankheiten. Sie widmet sich Themen, die in der Gesellschaft häufig verschwiegen werden, und packt sie in kunstvoll komponierte und kraftvolle Bilder. Poitras ist es gelungen, über Goldins Leben einen ebenso starken Film zu machen.
Das Politische im Privaten
Auch der mit dem Großen Preis der Jury – die zweitwichtigste Auszeichnung des Festivals – prämierte Film «Saint Omer» sucht das Politische im Privaten. Er beruhe auf einer wahren Geschichte, sagte die französische Filmemacherin Alice Diop. Sie selbst habe einem Prozess beigewohnt, bei dem eine Frau wegen Kindsmord angeklagt war. In «Saint Omer» verfolgt die Schriftstellerin und Dozentin Rama (Kayije Kagame) ebenfalls einen solchen Prozess. Doch das Verfahren gegen die senegalesisch-französische Frau namens Laurence Coly macht Rama emotional zu schaffen. Erinnerungen an die komplizierte Beziehung zu ihrer eigenen Mutter erschüttern sie.
Unter anderem sagt der Vater des toten Kindes aus, ein deutlich älterer, weißer Mann, der seine Beziehung zu Coly und seine Vaterschaft verheimlicht hat. Zudem werden im Verlauf des Prozesses rassistische Denkweisen bei Zeugen und Prozessbeobachtern offenbar. Die einen sind überrascht, dass die Angeklagte sich so gut ausdrücken kann. Die anderen glauben, dass sie wegen ihrer Herkunft eine andere, «mystische» Rechtsauffassung hat. Ein clever erzähltes Werk, das bei den Filmfestspielen auch mit dem «The Lion of the Future»-Preis für einen Debütfilm geehrt wurde.
Zu den Ausgezeichneten des diesjährigen Festivals zählen außerdem der italienische Regisseur Luca Guadagnino, der für «Bones and All» den Silbernen Löwen für die beste Regie gewann, und der inhaftierte iranische Filmemacher Jafar Panahi, der für «No Bears» den Spezialpreis der Jury erhielt. Die Preise als beste(r) Schauspieler(in) bekamen mit Cate Blanchett («Tár») und Colin Farrell («The Banshees of Inisherin») zwei große Filmstars. Die Auszeichnung für das beste Drehbuch ging auch an «The Banshees of Inisherin» und damit an Martin McDonagh. Was zeichnete diese unterschiedlichen Werke am Ende aus? «Wir haben nach Filmen gesucht, die unsere Herzen haben schneller schlagen lassen», beschrieb es Moore.