Wenn es um ihre Helden geht, schauen viele Briten ganz genau hin. Wo denn die Büste von Winston Churchill aus dem Oval Office abgeblieben sei, fragte ein BBC-Reporter gleich nach dem Machtwechsel in den USA die Sprecherin des neuen Präsidenten Joe Biden.
Der Weltkriegs-Premier steht beispielhaft für eine mitunter heftig geführte Debatte, die im Sommer für Proteste sorgte und noch immer Kontroversen auslöst, bis hin zum heutigen Premierminister und Churchill-Verehrer Boris Johnson. Wie wird Geschichte vermittelt – und was bedeutet dies für eine Gesellschaft?
Seit diesem Montag stehen die Proteste wieder im Fokus. Im westenglischen Bristol müssen sich vier Demonstranten wegen Sachbeschädigung vor Gericht verantworten. Sie sollen am 7. Juni vergangenen Jahres das Denkmal eines gewissen Edward Colston ins Hafenbecken geworfen. Colston war ein Wohltäter für die Stadt, mehrere Straßen und Gebäude sind nach ihm benannt, aber eben auch ein Sklavenhändler. Die Angeklagten plädierten zum Auftakt auf nicht schuldig, nun soll das Strafgericht den Fall klären.
Als die Black-Lives-Matter-Proteste für die Rechte von Schwarzen aus den USA nach Großbritannien überschwappten, dauerte es nicht lange, bis das Colston-Denkmal vom Sockel gerissen wurde. «Diese Statue ist ein Schlag ins Gesicht für alle Schwarzen», schimpfte eine Demonstrantin in die Kameras der BBC. Colstons Sturz löste einen Bildersturm aus, der auch vor einer Statue Churchills vor dem Parlament in London nicht halt machte.
Bei der Aufarbeitung von Geschichte geht ein Riss durch die britische Gesellschaft. An der Position Johnsons gibt es keinen Zweifel. «Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir aufhören, uns für unsere Geschichte, unsere Traditionen und unsere Kultur zu schämen», polterte der Regierungschef im Sommer und forderte, «diesen Anfall von Selbstdiskriminierung zu stoppen». Da ging es um die Frage, ob beim alljährlichen Konzert-Ereignis «Last Night of the Proms» zwei patriotische Lieder nicht ausnahmsweise mal ohne Gesang gespielt werden sollten.
«Wir brauchen eine Debatte über strukturellen Rassismus», fordert die Soziologin Shahnaz Akhter von der Universität Warwick in Coventry im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Auch Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton prangert das Thema an. Der Soziologe Ali Meghji von der Universität Cambridge sagt, schwarze Menschen seien in Großbritannien in vielen Bereichen benachteiligt. Fast die Hälfte der schwarzen Kinder lebe in Armut, schwarze Frauen seien doppelt so häufig arbeitslos wie weiße, schwarze Jugendliche säßen häufiger in Haft als weiße.
«Die Regierung hat nicht verstanden, warum die Proteste notwendig waren. Sie verurteilt die Demonstranten mehr als die sozialen Probleme, gegen die sie kämpfen», sagt Meghji. Johnson und Innenministerin Priti Patel kritisierten den Denkmalsturz in Bristol als «kriminellen Akt». Die Gleichstellungsbeauftragte der Regierung, Liz Truss, meint, Debatten über Diskriminierung seien zu oft von «modischen» Fragen wie ethnischer Herkunft geleitet. Und Bauminister Robert Jenrick schrieb im «Sunday Telegraph»: «Wir werden Großbritanniens Statuen vor den wachsamen Militanten retten, die unsere Vergangenheit zensieren wollen.»
Diese Haltung liegt auch daran, dass die teils blutige und rassistische Kolonialgeschichte des Vereinigten Königreichs nie aufgearbeitet wurde, meinen Experten. Viele Briten definieren sich noch immer über das Empire. Das Phänomen ist als «kolonialer Hangover» bekannt. «Johnson ist ein sehr gutes Beispiel für kolonialen Hangover», sagt Forscherin Akhter. «Er versucht, Churchill nachzuahmen und das beinhaltet Churchills Ideen.» Johnson stehe beispielhaft dafür, wie britische Geschichte gelehrt wird – nämlich, ohne Fehler zu erwähnen.
Sinnbildlich für den laxen Umgang mit der Geschichte steht eine Anekdote von einem Besuch Johnsons in Myanmar, dem früheren Burma, als er noch Außenminister war. Dort zitierte Johnson das Gedicht «The Road to Mandalay» des kolonialistischen Schriftstellers Rudyard Kipling («Das Dschungelbuch»). Schließlich griff der britische Botschafter ein und nannte das vor laufenden Kameras «nicht angebracht».
Anderes Beispiel: Als der frühere US-Präsident Barack Obama die Churchill-Büste schon einmal verbannte, machte Johnson «die Abneigung des teilkenianischen Präsidenten gegen das britische Empire» dafür verantwortlich. Die Antwort des Weißen Hauses, wo die Churchill-Statue nun wieder abgeblieben ist, lässt noch auf sich warten. In Bristol jedenfalls hatte der Denkmalsturz Folgen. Die Statue wurde in ein Museum versetzt, eine Schule und eine Veranstaltungshalle wurden umbenannt.