Ein gefesseltes Leben: «Eine Arbeiterin» von Didier Eribon
Der französische Autor Didier Eribon widmet sich in «Ein gefesseltes Leben: «Eine Arbeiterin» dem Leben seiner Mutter (Archivbild). (Urheber/Quelle/Verbreiter: Arne Dedert/dpa)

Eine alte Frau kommt in ein Pflegeheim. Von einem Tag auf den anderen muss sie sich von ihrem vertrauten Milieu verabschieden, fremde Menschen um sich herum ertragen und aufgezwungene Routinen befolgen. Schnell schwindet ihre Lebensenergie, ihre Welt schrumpft auf ein Bett zusammen, schließlich gibt sie sich auf. Ihren Sohn aus Paris wird sie nicht mehr wiedersehen.

Ihm bleibt nur ein schmerzlicher Rückblick auf das Leben seiner Mutter, einer Arbeiterin, von der er sich vor Jahrzehnten abgewandt hatte. Er war ein «Klassenverräter»: Aus dem Sohn einer Putzfrau und eines Hilfsarbeiters wurde ein berühmter Soziologe und Philosoph. Sein Name ist Didier Eribon.

Vor Jahren beschrieb Eribon in seinem Bestseller «Rückkehr nach Reims» seine Entfremdung vom Elternhaus und dem proletarischen Herkunftsmilieu, aber auch, wie er sich nach dem Tod seines verhassten Vaters seiner Mutter wieder langsam anzunähern suchte. Dabei kam er zu folgender Erkenntnis: «Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben.» Heute attestiert er sich selbst Egoismus und Undankbarkeit, weil ihm seine Mutter durch ihre Knochenarbeit höhere Schulbildung und Studium ermöglichte. Sein aktuelles Buch ist so nicht nur eine bittere Anklage gegen das inhumane Pflegesystem, sondern auch eine Art Wiedergutmachung gegenüber seiner Mutter.

Freiheit erst mit 80 Jahren

«Eine Arbeiterin» zeichnet den Weg einer Frau nach, die in ihrem Leben nie eine Chance hatte. Mögliche Ansätze zum Aufstieg, die sie aufgrund guter Schulleistungen gehabt hätte, wurden vor allem durch den Krieg zerstört. «Sie war ein ungewolltes, im Waisenhaus aufgewachsenes Kind und hatte mit vierzehn Jahren angefangen zu arbeiten, erst als Dienstmädchen, dann als Putzfrau, später als Fabrikarbeiterin.» Mit zwanzig Jahren rutschte sie in eine Ehe mit einem Mann, den sie nicht liebte, der zu Wutausbrüchen und rasender Eifersucht neigte. Neben der Arbeit musste sie den Haushalt mit vier Kindern managen. Erst mit 80 Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, sollte sie so etwas wie Freiheit erfahren und auch erstmals eine echte Leidenschaft erleben. Diese Freiheit wurde ihr im Altenheim schnell wieder genommen: «Sie war zur Unfreiheit verdammt. Was sie wollte, spielte keine Rolle mehr.»

Wie bei seiner französischen Kollegin, Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, und in gewisser Weise auch bei dem Autor Édouard Louis, mit dem ihn zudem die Homosexualität verbindet, ist Eribons großes Thema die durch den sozialen Aufstieg hervorgerufene kulturelle Entfremdung vom Herkunftsmilieu. Weder in der Lektüre noch in den Freizeitgewohnheiten oder der Sprache gibt es fortan noch Gemeinsamkeiten. Begegnungen werden zu einem schwierigen Drahtseilakt: «Während der Besuche bei meiner Mutter veränderte sich mein gesamter gedanklicher und körperlicher Gestus, bevor er, sobald ich mich von ihr verabschiedete, wieder zur Normalität zurückkehrte.» Ähnlich beschreibt Annie Ernaux in ihren autofiktionalen Büchern, wie die von ihr erworbene Sprache des Bürgertums eine fast unüberbrückbare Distanz zu ihren Dialekt sprechenden Eltern schuf.

Rassismus als dauerndes «Hintergrundrauschen»

Neben der Homophobie war der Rassismus im Elternhaus der wesentliche Grund für Eribons Kontaktabbruch. In «Eine Arbeiterin» präsentiert er die Mutter ganz ungeschminkt als eingefleischte Rassistin, die sich angeblich fremd im eigenen Land fühlt. Diesen Rassismus empfindet der Sohn als ein dauerndes «Hintergrundrauschen», das er während der gemeinsamen Zeit mit der Mutter ertragen muss. Er deutet es als Teil ihrer Klassenzugehörigkeit: «In der weißen Arbeiterschaft schien der Rassismus ein verbindendes Element zu sein, scheint er die Menschen in ihrer Beziehung zur Welt und zu anderen zu bestärken.» 

Insgesamt ist «Eine Arbeiterin» ein ebenso einfühlsames wie ungeschöntes Porträt eines Sohnes von seiner Mutter, der er nah und fern zugleich ist. Es beschreibt die Tragik einer Frau, die weder beruflich noch privat je selbstbestimmt und frei leben konnte. Dass am Ende dieses ohnmächtigen und gefesselten Lebens die «Gefangenschaft» in einem seelenlosen Pflegeheim steht, erscheint nur als letzte bittere Konsequenz. 

Von Sibylle Peine, dpa