Ein Apfel, zwei Birnen, drei Pflaumen, vier Erdbeeren, fünf Orangen, ein Stück Schokoladenkuchen, eine Eiswaffel, eine saure Gurke, eine Scheibe Käse, ein Stück Wurst, einen Lolli, ein Stück Früchtebrot, ein Würstchen, ein Törtchen und ein Stück Melone.
All das frisst die «kleine Raupe Nimmersatt», bevor sie sich dick und rund verpuppt und zum Schmetterling wird – und Millionen Kinder auf der ganzen Welt ihre Geschichte am liebsten sofort noch einmal von vorne hören wollen.
«Die kleine Raupe Nimmersatt» gehört zu den berühmtesten Kinderbüchern der Welt – nun ist ihr Schöpfer, der Autor und Illustrator Eric Carle, tot. Der US-Schriftsteller sei bereits am Sonntag im Alter von 91 Jahren gestorben, teilte seine Familie auf seiner Webseite mit. Sein Vater sei in seinem Studio im US-Bundesstaat Massachusetts einem Nierenversagen erlegen, sagte Sohn Rolf der «New York Times».
Prominente nehmen Abschied
«Seine Werke wurden über die Zeit millionenfach gelesen (und wieder gelesen und wieder gelesen), das Geschenk einer Generation für die nächste», schrieb die frühere First Lady der USA, Michelle Obama, per Kurznachrichtendienst Twitter. «Danke, Eric Carle, dass du unsere Leben mit so viel Staunen und Freude gefüllt hast.»
Carles Bücher seien «ein Schatz für Generationen von Kindern in Massachusetts und der ganzen Welt», schrieb Elizabeth Warren, Senatorin aus dem Bundesstaat.
Der Gerstenberg Verlag, in dem Carles Bücher auf Deutsch erschienen waren, teilte mit, man werde ihn als «liebenswürdigen Menschen und bis ins hohe Alter kreativen Künstler in guter Erinnerung behalten und sein Werk für kommende Generationen bewahren».
Alptraumhafte Kindheit
«Die farbenfrohen Illustrationen sind eine Art Gegenmittel zu den Graus und Brauns meiner Kindheit in Deutschland», hatte Carle kurz vor seinem 90. Geburtstag im Juni 2019 in einem schriftlichen Interview der Deutschen Presse-Agentur mitgeteilt. Geboren in Syracuse im US-Bundesstaat New York, war er 1935 als Sechsjähriger mit seinen Eltern, deutschen Auswanderern, aus den USA zurück nach Nazi-Deutschland gekehrt.
«Dieser Schulbeginn ist mir unvergesslich – ein kleines Klassenzimmer mit schmalen Fenstern, ein harter Bleistift, ein kleines Blatt Papier und die strenge Ermahnung, keine Fehler zu machen», erinnerte er sich an die Schulzeit in Stuttgart. «Es war so ein Kontrast zu Miss Frickey», seiner Grundschullehrerin in den USA, «die ich liebte und in deren lichtdurchflutetem Klassenzimmer ich mit leuchtenden Farben malte».
Die Schläge seines Lehrers in Stuttgart mit dünnem, hartem Bambusstock vergaß er bis ins hohe Alter nicht. «Ich habe schmerzhafte Erinnerungen daran, in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges aufzuwachsen.»
Die schmerzhaften Kindheitserfahrungen wurden zum Antrieb für sein späteres Schaffen als Kinderbuchautor. Mehr als 100 veröffentlichte er davon, die nach Angaben des Gerstenberg Verlags in rund 70 Sprachen übersetzt wurden.
Das innere Kind wurde wieder lebendig
Zum Kinderbuch kam er durch Zufall: 1952, nach Abschluss an der Kunsthochschule Stuttgart, zog er mit gerade einmal 40 Dollar in der Tasche zurück in die USA, wurde Grafikdesigner bei der «New York Times» und künstlerischer Leiter bei einer Werbeagentur. Der Schriftsteller Bill Martin sah eines Tages eine von Carles Grafiken und fragte, ob er Bilder zu einer Geschichte über einen braunen Bären beisteuern könne. «Mein inneres Kind – das so plötzlich und einschneidend entwurzelt und unterdrückt worden war – wurde langsam wieder lebendig», erzählte Carle später über die neue Arbeit.
Auch einstige Spaziergänge mit dem Vater durch Wiesen und Wälder prägten das Werk. «Er hob einen Stein hoch und zeigte mir die kleinen Kreaturen, die darunter lebten. Ich denke, indem ich in meinen Büchern über kleine Geschöpfe schreibe, ehre ich auch ihn», sagte Carle später.
Paul Klee war sein Vorbild
Die Geschichten von Spinnen, Käfern und Chamäleons erzählt Carle anhand von Collagen aus selbstbemaltem Seidenpapier. Ein Vorbild war der Künstler Paul Klee (1879-1940). Für seinen berühmtesten Helden – die grüne Raupe mit rotem Kopf, die nach ihrer Fressorgie erst unter Bauchschmerzen leidet und dann zum Schmetterling wird – stanzte er Löcher in die Buchseiten. Kinder können im Buch mit dem Finger selbst erleben, wie sich die Raupe durch Birnen und Erdbeeren, schließlich durch Schokoladenkuchen und Würstchen frisst.
«Ich versuche zu unterhalten mit meinen Bildern und meinen Geschichten», sagte Carle einmal. Aber er lasse auch ein bisschen etwas zum Lernen einfließen, «auf eine verdeckte Art». Mit der Raupe lenkt Carle den Blick auf die Wandlung vom Ei zum Schmetterling, flicht Zahlen und Wochentage in die Geschichte ein. 1969 erschien das Buch in den USA. Nach Angaben des Gerstenberg Verlags wurden bis heute mehr als 50 Millionen Exemplare davon verkauft.
Den Erfolg der Raupe konnte Carle sich nie ganz erklären: «Mittlerweile glaube ich, zum Teil liegt es daran, dass sich die meisten Kinder identifizieren können mit der hilflosen, kleinen, unbedeutenden Raupe und sie sich mitfreuen, wenn die sich in einen schönen Schmetterling verwandelt.»